Mariah Parish war tot. Sie war bei der Geburt ihres Kindes gestorben.
Rich Joyce war tot. Man hatte ihn sozusagen zu Tode erschreckt.
Victoria Flores, die von Lizzie Joyce engagiert worden war, um Mariahs Tod zu untersuchen, war ebenfalls tot.
Parker Powers, der in dem Fall ermittelt hatte, war tot.
Mein Stiefvater war in der Arztpraxis gewesen, bei jenem Arzt, der anwesend war, als Mariah Parish starb.
Und was war wenige Monate nach der geheimnisvollen Geburt des geheimnisvollen Kindes vor acht Jahren noch passiert?
Meine Schwester Cameron war verschwunden.
16
Ich ging ins Bad und schloss mich ein. Ich klappte den Toilettendeckel herunter und setzte mich darauf. Ich ließ das Licht aus. Ich wollte mein Spiegelbild nicht sehen.
Matthew hatte irgendwas mit den Joyces zu tun, auch wenn ich nicht wusste, was. Außerdem war er Camerons Stiefvater. Und wenn ich mich nicht sehr täuschte, war Cameron, kurz nachdem Maria Parish ihr Kind geboren hatte, verschwunden. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass jemand aus unserer Familie etwas mit Camerons Verschwinden zu tun haben könnte. Als die Polizei meine Mutter, Matthew, Mark, Tolliver und mich befragt hatte, hatte ich getobt, weil sie kostbare Zeit verschwendete, die sie lieber darauf verwenden sollte, den oder die wahren Mörder zu finden.
Ich hatte ein paar Jungs von unserer Highschool verdächtigt, vor allem Camerons letzten Freund, der nicht gerade galant auf die Trennung reagiert hatte. Ich hatte Laurels und Matthews Junkiefreunde verdächtigt. Ich hatte Wildfremde verdächtigt, jemanden, der Cameron allein von der Schule heimgehen sah und beschloss, sie zu berauben/zu vergewaltigen/zu entführen. Ich hatte die Jungs in Verdacht, die uns manchmal nachgepfiffen hatten, wenn wir gemeinsam ausgegangen waren. Ich hatte mir Hunderte von Szenarien ausgemalt. Einige davon waren höchst unwahrscheinlich. Aber sie alle gaben mir eine mögliche Antwort auf das furchtbare Verschwinden meiner Schwester. Eine Antwort, die keinen Schmerz über den Verlust einer weiteren Person zur Folge hatte.
Es schien zwar unglaublich, aber ich war fest davon überzeugt, dass zwei solche Vorfälle nicht so rasch aufeinander folgen können, ohne dass es da einen Zusammenhang gibt. Auch wenn ich noch nicht wusste, welchen. Und erst recht nicht, wenn ein und derselbe Mann in beide Vorfälle verwickelt war.
Reagierte ich einfach nur übertrieben? Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, obwohl ich fast blind war vor Wut. Mein Stiefvater wusste etwas über die Joyces. Er wusste genug, um den Namen des Arztes zu kennen, der Mariah Parish »behandelt« hatte.
Er wusste Bescheid . Vermutlich wusste er auch, was meiner Schwester zugestoßen war. Und hatte das all die Jahre vor mir verheimlicht.
Ich spürte es bis tief in die Knochen.
Ich konnte nicht ins Wohnzimmer gehen und ihn mir vorknöpfen. Er war mir körperlich überlegen. Tolliver würde nicht zulassen, dass ich seinen Vater umbrachte. Wahrscheinlich nicht einmal Manfred, der nicht persönlich betroffen war und sich verpflichtet fühlen würde, einzugreifen. Aber Tolliver war schwach und verletzt, und Manfred würde irgendwann gehen.
Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht mehr ernsthaft darüber nachzudenken, wie ich meinen Stiefvater umbringen konnte.
Ich konnte mich schließlich irren, was ich jedoch für wenig wahrscheinlich hielt. Aber was noch viel schwerer wog, war, dass ich einfach nicht genug wusste. Ich wollte die letzte Ruhestätte meiner Schwester finden. Ich wollte wissen, was Cameron zugestoßen war.
Und deswegen musste ich mich überwinden, Matthews Anwesenheit zu erdulden.
Ich zwang mich dazu, allein in der Dunkelheit. Ich zwang mich, stark zu sein. Dann stand ich auf, machte das Licht an und wusch mir das Gesicht. So als könnte ich damit mein neu erworbenes Wissen wegwaschen und mich in den Zustand glücklicher Ahnungslosigkeit zurückversetzen.
Ich betrat das Wohnzimmer, musste aber ganz langsam gehen. Ich kam mir vor, als hätte man mir einen Stoß zwischen die Rippen versetzt. Ich fühlte mich zerbrechlich und war innerlich ganz wund wegen des Misstrauens und des Hasses, die ich mit mir herumtrug.
Ich spürte sofort, dass Matthew Manfred zum Gehen bewegen wollte, damit er allein mit seinem Sohn sprechen konnte. Doch Manfred hatte nicht gehen wollen, bevor er noch einmal mit mir geredet hatte. Er sah von Matthew zu mir, als ich den Raum betrat, und fröstelte. Was auch immer Manfred gesehen hatte –Tolliver und Matthew blieb es glücklicherweise verborgen.
»Manfred«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Und danke, dass du mich heute begleitet hast.«
»Gern geschehen«, sagte Manfred und sprang dermaßen eifrig auf, dass ich merkte, wie wild er darauf war, dieses Hotelzimmer zu verlassen. »Wollen wir noch einen Kaffee zusammen trinken? Oder soll ich dich zum Einkaufen fahren? Hast du noch genügend … Kartoffelchips?«
Hier hatte er schlecht geraten. Wir aßen niemals Kartoffelchips. Meine Mundwinkel kräuselten sich. »Danke, Manfred.« Ich rang kurz mit mir. Manfred wollte unsere neu gewonnenen Erkenntnisse über Matthew mit mir besprechen. Aber ich wusste selbst noch nicht, was ich diesbezüglich unternehmen wollte. Deshalb wartete ich tunlichst mit dem Tête-à-Tête, bis ich einen Plan hatte. »Ich bleibe lieber hier, falls Tolliver mich braucht.«
Ich umarmte ihn spontan, und er fühlte sich zerbrechlich an. Zögernd erwiderte er meine Umarmung. Er musste sich noch von der hellseherischen Vision erholen, die er von mir gehabt hatte. Wenn er auch nur ansatzweise gesehen hatte, wie ich mich fühlte, hatte er etwas Furchtbares, Mörderisches gesehen. »Tu es nicht!«, flüsterte er mir ins Ohr. Dann ließ ich ihn los, und er trat einen Schritt zurück.
»Mach dir keine Sorgen, wir kommen schon zurecht«, versicherte ich ihm. »Ich rufe dich an, wenn ich Hilfe brauche, das verspreche ich dir.«
»Na gut. Ich habe heute Nachmittag noch ein paar Termine. Aber mein Handy steckt stets aufgeladen in meiner Tasche. Tschüs, Tolliver. Mr Lang.« Mit einem letzten, intensiven Blick in meine Augen verließ Manfred das Zimmer und eilte den Flur hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Ein komischer Typ!«, sagte Matthew. »Hast du viel mit solchen Leuten zu tun, Tolliver? Das muss ein Freund von dir sein, Harper.«
»Er ist tatsächlich ein Freund von mir«, sagte ich. »Und mit seiner Großmutter war ich ebenfalls befreundet.« Ich fühlte mich wirklich merkwürdig, so als stünde ich neben mir. Matthew saß bei Tolliver auf dem Sofa, also nahm ich den Sessel. Ich schlug die Beine übereinander und schlang die Hände um mein Knie. »Heute Morgen war das Wetter wirklich scheußlich, stimmt’s, Matthew?«
Er sah mich überrascht an. »Ja, der Verkehr war furchtbar. Aber so ist das nun mal in Dallas. Und dann noch der Regen.«
»Hattest du heute Vormittag etwas zu erledigen?«
»Oh ja, so dies und das. Um halb drei muss ich in der Arbeit sein.«
Arbeitete er tatsächlich bei McDonald’s? Oder traf er sich mit einem der Joyces? Hatte er schon immer in ihren Diensten gestanden?
Und der Mann, den ich über alles liebte, der einzige, den ich aufrichtig liebte, war der Sohn dieses Mannes.
Tolliver mochte Probleme damit haben, aber mir war das egal. Ich weiß besser als jeder andere, dass man von den Kindern nicht auf die Eltern schließen darf. Ich war von derselben Frau großgezogen worden, die ihre zwei kleinen Töchter so sehr vernachlässigt hatte, dass ihre älteren Kinder sich um sie kümmern mussten.
Ich war der Meinung, dass ich etwas wohlgeratener war als meine Mutter.
Aber wenn ich Matthew Lang tötete – wäre ich dann wirklich noch besser als meine Mutter?
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