»Gehen Sie zur Polizei?«, fragte er. »Wissen Sie, selbst wenn man die arme Ms Parish exhumiert, lässt sich nicht mehr das Geringste feststellen.« Er bereute schon, mit uns gesprochen zu haben. Aber er war auch erleichtert. Dieser Kerl hatte in den letzten acht Jahren schlimme Gewissensbisse gehabt. Ich für meinen Teil gönnte es ihm.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Manfred nachdenklich. Er hatte genauso reagiert wie ich. »Das überlegen wir uns noch. Wenn dem Kind nichts passiert ist, dürfen Sie Ihre Approbation sicherlich behalten.«
Ein entsetzter Dr. Bowden starrte uns nach, während wir den Flur hinuntergingen und das Wartezimmer durchquerten. Darin saßen drei weitere Patienten, und sie taten mir leid. Ich fragte mich, welche Behandlung sie wohl erhalten würden – jetzt, wo der Arzt dermaßen verstört war. Er hatte heute gleich zwei Besucher gehabt, die wegen eines Vorfalls gekommen waren, den er am liebsten vergessen hätte. Das dürfte genügen, um jeden zu verstören, auch Menschen, die aus härterem Holz geschnitzt waren als Tom Bowden.
»Der Typ ist wirklich das Letzte!«, sagte Manfred, als wir im Lift standen. Er war unheimlich aufgebracht, und sein Gesicht war knallrot vor Wut.
»Ich weiß gar nicht, ob er wirklich so schlimm ist«, sagte ich und fühlte mich mindestens zehn Jahre älter als mein Begleiter. »Aber er ist schwach und eine echte Witzfigur, gemessen an seinem hippokratischen Eid.«
»Ich würde ja nichts sagen, wenn das in den Dreißigerjahren passiert wäre«, meinte Manfred zu meiner Überraschung. »Das klingt doch nach einer echten Schauergeschichte: Es klopft mitten in der Nacht, ein Fremder kommt und bringt dich zu einem geheimnisvollen Patienten in einem großen Haus. Und dann noch eine sterbende Frau, ein Baby, das Ganze unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit …«
Ich starrte Manfred an, während sich die Türen zum Erdgeschoss öffneten. Dasselbe hatte ich auch gedacht. »Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt? Wenn wir beide finden, dass er uns eine unglaubwürdige Geschichte erzählt hat, ist sie vielleicht auch unglaubwürdig. Vielleicht hat er uns bloß einen Haufen Lügen aufgetischt.«
»So gut lügen kann er auch wieder nicht«, sagte Manfred. »Obwohl einiges von dem, was er uns erzählt hat, natürlich gelogen war. Wie hat er es nur so weit gebracht? Ahnte er nicht, dass man ihm eines Tages Fragen stellen würde? Ganz dumm kann er doch nicht sein, er ist schließlich Arzt. Und ein Medizinstudium schafft wirklich nicht jeder. Seine Approbation hing dort an der Wand, ich habe sie mir angesehen. Ich werde das überprüfen. Vielleicht müssen wir wieder einen Detektiv einschalten.«
»Nein, auf keinen Fall. Wenn ich daran denke, was mit dem letzten passiert ist …«, konterte ich zynisch, bereute es jedoch gleich wieder. »Es tut mir leid, Manfred. Ich bin froh, dass du dabei warst. Vier Augen sehen mehr als zwei. Hast du ihm die Geschichte im Großen und Ganzen abgenommen? Du bist der Hellseher.«
»Ich habe ihm geglaubt«, sagte Manfred nach einem langen Schweigen. »Ich habe mir noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen, und ich glaube, er hat uns die Wahrheit gesagt. Aber nicht die ganze Wahrheit. Er wusste beispielsweise, wer der Mann war, der ihn abholte. Und ich glaube auch nicht, dass der Mann sein Handy an sich genommen hat. Ich glaube, er sagte dem Arzt einfach, dass er kein Krankenhaus verständigen darf, und zwar in einem drohenden Ton. Das reicht schon, um einen Kerl wie Dr. Bowden zu überzeugen. Ich glaube auch, dass der Typ ihn vorgewarnt hat. Ärzte gehen heute nicht mehr mit riesigen Koffern auf Hausbesuch so wie damals, als meine Oma noch klein war. Ich glaube, Dr. Bowden wusste ganz genau, dass er Medikamente für eine Frau mitbringen musste, die gerade eine schwere Geburt gehabt hatte. Und welche für das Baby.«
Das klang vernünftig. »Du hast recht. Wer ist also deiner Meinung nach in den Ort gefahren, um den Arzt zu holen? Wer trat die geheimnisvolle Fahrt zum großen leeren Haus an? Wer brachte das Baby weg? Wer auch immer Dr. Bowden zur Ranch fuhr, er trug einen Ehering.«
»Ach ja, stimmt. Gut, dass du dich daran erinnerst. Nun, wir wissen, dass Drexell eine Zeitlang verheiratet war, dasselbe gilt für Chip. Es könnte einer von beiden gewesen sein oder jemand ganz anderes, den wir noch nicht kennen.«
Wir fuhren zurück zum Hotel und hielten unterwegs, um in einem Fastfoodlokal zu Mittag zu essen. Ich bestellte ein Sandwich mit gegrilltem Huhn und ließ die Pommes liegen. Ich versuchte, mich gesünder zu ernähren, denn dann fühlte ich mich besser. Wir sprachen nicht viel während des Essens. Keine Ahnung, was in Manfred vorging, aber ich versuchte, das Gefühl heraufzubeschwören, das ich empfunden hatte, als ich die Joyces auf dem Pioneer Rest Cemetery zum ersten Mal aus ihren Trucks steigen sah. Ich hatte geglaubt, sie schon mal irgendwo gesehen zu haben, zumindest die Männer. Wo könnte das gewesen sein? Vielleicht am Wohnwagen? Dort hatte es ein ständiges Kommen und Gehen gegeben … und ich hatte mit aller Macht versucht, den Besuchern aus dem Weg zu gehen.
Dem musste ich ein andermal auf den Grund gehen, denn als wir ins Hotel zurückkehrten, fanden wir dort einen völlig genervten Tolliver vor, was eher selten vorkommt. Er hatte versucht zu duschen. Als er seine Schulter mit einer Plastiktüte schützen wollte, war er gegen die Wand gestoßen. Das hatte wehgetan, außerdem war er sauer, weil ich so lange mit Manfred weg gewesen war. Er hatte sich vom Zimmerservice etwas zu essen bringen lassen, und dann hatte es ihn große Mühe gekostet, den Deckel von seinem Getränk zu entfernen und sein Besteck auszuwickeln. Er konnte schließlich nur eine Hand benutzen. Tolliver war eindeutig deprimiert, und obwohl ich bereit war, ihn zu knuddeln, um seine Laune zu heben, ärgerte ich mich, als er sagte, Matthew habe angerufen, um sich nach ihm zu erkundigen. Da ich Tolliver allein gelassen hatte, wollte Matthew noch vorbeikommen.
Ich war wütend auf Tolliver, und er war wütend auf mich – und das nur, weil ich mich von jemand anderem hatte begleiten lassen. Normalerweise ist Tolliver weder launisch noch reizbar noch unvernünftig. Heute war er alles auf einmal.
»Ach, Tolliver!«, sagte ich nicht gerade liebevoll. »Konntest du nicht einfach durchhalten, bis ich wiederkomme?«
Er starrte mich an, aber ich sah, dass es ihm bereits leidtat, mit seinem Vater gesprochen zu haben. Trotzdem, es war zu spät. Anscheinend hatte McDonald’s äußerst flexible Arbeitszeiten, denn kurz darauf klopfte Matthew an die Tür.
Als Matthew das Wohnzimmer betrat und zu seinem Sohn ging, während ich ihm die Tür aufhielt, sah ich ihm nach. Ich erstarrte, die Hand noch an der Klinke. Matthew war der Mann, den ich beim Verlassen des Gebäudes, in dem Dr. Bowdens Praxis war, beobachtet hatte. Er hatte die Lobby auf der anderen Seite verlassen, während wir sie gerade betreten hatten. Er trug dieselben Sachen, hatte denselben Gang und dieselbe Figur.
Manfreds Blick folgte dem meinen, und er riss die Augen auf. Er stellte mir eine stumme Frage. Kurz darauf schüttelte ich den Kopf. Es war sinnlos, ihn zur Rede zu stellen – zumindest konnte mein verwirrter Kopf im Moment keinen Vorteil darin erkennen.
Wenn Matthew zugab, dort gewesen zu sein, hätte er einfach behauptet, dort einen anderen Arzt, Anwalt oder Steuerberater aufgesucht zu haben, warum auch immer. Ich konnte ihm schließlich schlecht das Gegenteil beweisen. Aber seine Anwesenheit in Tom Bowdens Gebäude war mit Sicherheit kein Zufall.
Nicht im Traum wäre ich auf die Idee gekommen, Matthews Auftauchen im Leben seiner Kinder könnte etwas mit den Joyces zu tun haben.
Anstatt den drei Männern Gesellschaft zu leisten, ging ich ins Schlafzimmer und setzte mich auf die Bettkante. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand eine Autotür gegen die Beine geknallt, bevor ich ganz eingestiegen war. Ich zwang mich dazu, mich auf eine von den Dutzenden Möglichkeiten zu konzentrieren, die mir plötzlich durch den Kopf gingen. Für mich brach eine Welt zusammen, und mich in der neuen zurechtzufinden, war mir so gut wie unmöglich.
Читать дальше