Im Nachhinein wurde auch mir klar, dass das falsch gewesen war. Ich hätte das lieber der Polizei überlassen sollen. Aber in diesem Moment fand ich es völlig selbstverständlich, ja, hielt es für einen besonders schlauen Schachzug. Mehr kann ich zu meiner Verteidigung nicht vorbringen. Einer dieser Leute hatte auf uns geschossen, und ich musste herausfinden, wer von ihnen das höchstwahrscheinlich gewesen war.
Ich stieg in Rudys Wagen. Er hatte eine alte Jacke auf den Rücksitz geworfen, und ich nahm sie nach vorn und hüllte mich darin ein, als wäre mir kalt, was gar nicht mal gelogen war. Nach ein paar Minuten kam ein Uniformierter angelaufen und sagte, er würde mich ins Hotel zurückbringen. Ich hatte die Jacke angezogen, sie bis oben hin geschlossen und die Mappen darunter versteckt. Ich verließ Rudys Wagen und stieg in den Streifenwagen.
Der Uniformierte, ein Mann um die dreißig, hatte einen kahl rasierten Schädel und ein finsteres Gesicht, was angesichts der Umstände nicht weiter verwunderlich war. Während der Fahrt machte er genau eine Bemerkung: »Damit das klar ist: Wir haben sie gefunden«, sagte er und warf mir einen Blick zu, der mich wohl das Fürchten lehren sollte. Es fiel mir nicht schwer, zustimmend zu nicken. Ich musste richtig eingeschüchtert gewirkt haben, denn anschließend schwieg er.
Ich stieg recht unbeholfen aus, wegen der Mappen. Er muss sich gefragt haben, ob ich irgendwie behindert bin, aber das machte ihn auch nicht zuvorkommender. Mit verschränkten Armen betrat ich das Hotel und war froh über die sich automatisch öffnenden Türen, die es mir erlaubten, meine Hände an Ort und Stelle zu lassen und die Mappen in den Lift zu schmuggeln.
Meine Hände waren kalt, und ich tat mich schwer, nach meiner Schlüsselkarte zu greifen und diese in den dafür vorgesehenen Schlitz zu stecken. Aber die Tür ging auf, und ich taumelte ins Zimmer.
»Was ist passiert?«, rief Tolliver sofort, und ich eilte ins Schlafzimmer. Das Zimmermädchen war da gewesen und hatte das Bett gemacht. Er trug einen sauberen Schlafanzug und lag auf dem Bettüberwurf, wobei er sich mit der Sofadecke zugedeckt hatte. Die Vorhänge waren aufgezogen und gaben den Blick auf den erschreckend grauen Himmel frei. Während ich im Lift gewesen war, hatte es zu regnen begonnen. Das würde die Arbeit auf dem Friedhof verkomplizieren. Dicke Tropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Ich ging zum Bett, beugte mich darüber und zog Rudy Flemmons alte Jacke auf. Die Mappen plumpsten laut auf den Bettüberwurf.
»Was hast du getan?«, fragte Tolliver weniger vorwurfsvoll als neugierig. Er machte den Fernseher aus und griff nach dem Bündel, aber ich war schneller. Ich löste das Gummiband, legte es für nachher beiseite und reichte ihm dann die oberste Mappe, auf der »Lizzie Joyce« stand.
»Sie war also tatsächlich dort«, sagte er. »Verdammt, sie hat ihre kleine Tochter geliebt. Die Sache nimmt immer schlimmere Formen an. Hat es lange gedauert, bis du sie gefunden hast?«
»Zehn Minuten«, sagte ich. »Ein Streifenpolizist hat mich zurückgebracht.«
»Du hast die Mappen gestohlen?«
»Ja. Aus Victorias Kofferraum.«
»Wie wahrscheinlich ist es, dass sie danach suchen werden?«
»Ich weiß nicht, wie genau sie hingesehen haben, bevor alle losgerannt sind, in der Hoffnung, sie wiederzubeleben. Vielleicht hatten sie schon Fotos gemacht.« Ich zuckte die Achseln. Ich konnte es nicht mehr rückgängig machen.
»Nach was suchen wir?«, fragte er.
»Wir versuchen herauszufinden, wer von diesen Leuten höchstwahrscheinlich auf dich geschossen hat.«
»Dann hast du meine ungeteilte Unterstützung«, sagte er.
Ich zog meine nassen, schlammbespritzten Stiefel aus und kletterte zu ihm ins Bett. Dann begann ich mit Kates Mappe, während er sich mit Lizzies beschäftigte.
Eine Stunde später musste ich eine Pause einlegen und den Zimmerservice bestellen, damit er uns Kaffee und etwas zu essen brachte. Wir hatten noch nicht gefrühstückt, und es war schon fast elf.
Wir hatten viel gelernt.
»Sie war wirklich gut«, sagte ich. Ich hatte Victoria vorher nie besonders zu schätzen gewusst, aber jetzt tat ich es. In kürzester Zeit hatte sie unzählige Informationen zusammengetragen und viele Leute befragt.
Tolliver war dankbar für eine Tasse Kaffee und freute sich auch über den Vollkornmuffin. Ich bestrich ihn mit Butter, ein ungewohnter Luxus. Er kaute, schluckte und nippte erneut an seinem Kaffee. »Meine Güte, schmeckt das gut nach dem Krankenhausfraß«, sagte er. »Lizzie Joyce ist eine schillernde Persönlichkeit, noch schillernder als auf dem Friedhof. Sie ist wirklich Champion im Tonnenrennen, und das gleich mehrfach. Außerdem hat sie öfter im Rodeo gewonnen. Schon als Teenager war sie Rodeo Queen, und zwar die des ganzen Bundesstaates. Außerdem hat sie die Highschool mit Auszeichnung abgeschlossen und war Dreizehnte ihres Jahrgangs an der Baylor University.«
Ich hatte keine Ahnung, aus wie vielen Leuten ein Jahrgang an der Baylor University besteht, aber ich war schwer beeindruckt. »Was hat sie denn studiert? Ich bin bloß neugierig.«
»Betriebswirtschaft«, sagte er. »Ihr Dad hatte sie bereits zur Nachfolgerin auserkoren. Den Joyces gehört die riesige Ranch, aber der Großteil des Geldes stammt aus dem Öl-Boom. Danach wurde es investiert, viel davon in Übersee. Es gibt gleich mehrere Steuerberater, die sich ausschließlich um die Firmenbeteiligungen der Joyces kümmern. Laut Victoria behalten sie sich gegenseitig im Auge, sodass sich keiner von ihnen Betrügereien erlauben kann, und wenn, nicht ungeschoren damit davonkommt. Die Joyces besitzen außerdem hohe Anteile an einer Anwaltskanzlei, die ein Onkel gegründet hat.«
»Und was machen sie?«, fragte ich,
Tolliver verstand sofort, was ich meinte, was im Grunde erstaunlich war.
»Sie spenden viel für die Krebsforschung, denn daran ist die Frau von Rich Joyce gestorben. Sie unterhalten eine Ranch für behinderte Kinder. Das ist ihre größte Wohltätigkeitsorganisation. Sie ist fünf Monate im Jahr geöffnet, und die Joyces bezahlen die Angestellten, obwohl sie auch Spenden annehmen. Dann ist da noch die Hauptranch, die von Lizzies Freund Chip Moseley geleitet wird. Dort leben sie, wenn sie nicht gerade in ihren Apartments in Dallas oder Houston sind. Die Unterlagen über den Freund habe ich noch nicht gelesen.«
»Ich komme gleich dazu«, sagte ich. »Kate, auch Katie genannt, ist nicht so klug wie ihre Schwester. Sie ist von der Texas A&M University geflogen, nachdem sie sich vor allem als wilde Partygängerin hervorgetan hat. Als Teenager wurde sie einige Male betrunken am Steuer erwischt, und sie hat das Wagenfenster eines Freundes zertrümmert, nachdem sie sich getrennt hatten. Seitdem scheint sie ein wenig erwachsener geworden zu sein. Sie arbeitet auf der kleinen Ranch, die für die behinderten Kinder gegründet wurde. Sie organisiert Fundraising-Veranstaltungen und macht Einkäufe. Ach ja, sie hat auch ein freiwilliges Praktikum im Zoo absolviert.«
Das klang wirklich langweilig.
Chip Moseley war da schon deutlich interessanter. Er hatte sich ganz schön hochgearbeitet. Seine Eltern waren gestorben, als er noch klein war. Danach war er in eine Pflegefamilie gekommen, und zwar auf eine Ranch. Er hatte das Rodeoreiten gelernt und sich darin einen Namen gemacht. Gleich nach der Highschool hatte er einen Job auf der Joyce-Ranch bekommen. Er hatte sich hochgeackert, die Abendschule besucht und managte jetzt den Viehhandel der Ranch. Er hatte schon eine Ehe hinter sich und war jetzt seit sechs Jahren mit Lizzie zusammen. Abgesehen von einem kleinen Gesetzeskonflikt mit Anfang zwanzig besaß er keinerlei Vorstrafen. Er war mal in eine Kneipenschlägerei in Texarkana verwickelt gewesen. Zu meiner Überraschung kannte ich den Namen des Lokals. Meine Mutter und mein Stiefvater waren dort manchmal hingegangen.
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