Schließlich wandte sich Detective Flemmons zum Gehen. Ich war unheimlich erleichtert, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ich wartete, bis ich ihn zum Lift gehen hörte. Ich lauschte auf das Pling!, als der Lift kam, und auf das leise Rumpeln der auf- und zugehenden Lifttüren. Ich öffnete sogar die Zimmertür und sah mich suchend um, um sicherzustellen, dass niemand mehr da war.
So langsam litt ich unter Verfolgungswahn, aber aus gutem Grund.
»Los, raus mit der Sprache!«, sagte ich. Obwohl Tolliver sehr müde aussah und mühsam aufstand, damit ich ihn ins Bett bringen konnte, wollte ich unbedingt wissen, was er mir erzählen wollte, bevor Rudy Flemmons gekommen war.
Als er wieder im Bett lag, sagte Tolliver: »Sie hat mich gefragt, ob die Joyces das Baby von Mariah Parish wirklich nur finden wollen. Oder ob ich mir vorstellen kann, dass sie das Kind töten wollen.«
»Das Kind töten?!«, sagte ich verblüfft. Aber ich verstand natürlich sofort, was er meinte. »Ein weiterer Nachkomme der Joyces wird vermutlich mindestens ein Viertel des Vermögens erben. Er ist also ein direkter Erbe oder wie das heißt und wäre damit erbberechtigt, und zwar unabhängig davon, ob er unehelich geboren wurde oder nicht. Ich nehme nicht an, dass Rich Joyce Mariah heimlich geheiratet hat?«
Tolliver schüttelte den Kopf. »Nein, er hätte sie offiziell geheiratet. Wenn Victoria recht hat, hatte er eiserne Prinzipien. Wenn das Kind von ihm war, wäre er auch dazu gestanden. Vorausgesetzt, er wusste davon.«
»Und, konnte sie sich das vorstellen?«
»Ja, da sie viele Leute befragt hat, die Rich Joyce gekannt haben und ihm nahestanden. Sie alle haben Victoria erzählt, dass Lizzie genau wie ihr Großvater ist, zupackend und grundehrlich, während es Kate und Drex nur ums Geld geht.«
»Und was ist mit Chip, ihrem Freund?«
»Ihn hat sie nicht erwähnt.«
»Und das hat Victoria schon alles herausgefunden?«
»Ja, sie war ziemlich fleißig.«
»Warum hat sie dir das alles erzählt? Wahrscheinlich nicht, weil sie auf dich steht, wenn sie ohnehin wieder zu Rudy Flemmons zurückwollte.«
»Weil sie glaubt, dass einer der Joyces auf mich geschossen hat, deshalb.«
»Gut, aber ich verstehe trotzdem noch nicht.«
»Die Joyces vermuten, dass du mehr über Richs Tod weißt, als du an seinem Grab gesagt hast. Sie sind nervös, weil du wusstest, woran Mariah gestorben ist, und die Existenz des Babys erwähnt hast. Ich nehme an, dass sie Angst haben, du könntest die Leiche des Babys finden.«
»Victoria glaubt also nicht, dass das Baby noch lebt? Sie glaubt, dass das Baby umgebracht wurde?«
Mir wurde ganz schlecht. Ich habe schon viel Schlimmes gesehen und gehört, wirklich schlimme Dinge, durch die »Gabe«, die mir der Blitz geschenkt hat. Früher sind viele Babys bei der Geburt gestorben, weil dabei so viel schiefgehen konnte. Heute gibt es das kaum noch. Ich habe schon auf unzähligen winzigen Gräbern gestanden und die reglosen, weißen Gesichter gesehen. Und es hat mich jedes Mal mitgenommen. Aber der Mord an einem Kind ist für mich das abscheulichste Verbrechen überhaupt, das absolute Böse.
»Davon geht sie aus. Sie konnte keinen Eintrag im Geburtenregister finden. Vielleicht hat Mariah das Kind allein bekommen.«
»Na hör mal, welche Frau geht nicht ins Krankenhaus, wenn sie spürt, dass es so weit ist?«
»Vielleicht eine, die nicht dorthin kann«, sagte Tolliver.
Ich spürte, wie ich meine Lippen angewidert und zugleich entsetzt zusammenpresste. »Du meinst, jemand hat verhindert, dass sie ins Krankenhaus gehen konnte? Und einfach zugelassen, dass sie bei der Geburt starb?« Ich brauchte nicht noch hinzuzufügen, wie grausam und unmenschlich ich das fand. Tolliver teilte meine Gefühle.
»Das kann schon sein. Das wäre die beste Erklärung dafür, dass sie im Kindbett gestorben ist und dass es weder einen Eintrag im Geburtenregister noch einen aktenkundig gewordenen Krankenhausaufenthalt von ihr gibt.«
»Und wenn ich nicht gekommen wäre …«
»Hätte niemand je davon erfahren.«
So gesehen war es kein Wunder, dass mich jemand tot sehen wollte.
13
Ich war im »Trainingsraum« und joggte auf dem Laufband auf der Stelle – ein eher symbolisches Zugeständnis des Hotels an das Thema Fitness. Zumindest befand ich mich in einem abgeschlossenen Bereich, was im Moment Sicherheit bedeutete. Ich war früh aufgewacht und hörte an Tollivers Atmung, dass er noch tief im Land der Träume war.
Ich konnte inzwischen verstehen, warum diese schrecklichen Dinge um mich herum geschahen, wusste aber nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich hatte nichts in der Hand, womit ich zur Polizei gehen konnte, nicht das Geringste. Und die Joyces waren reich und hatten gute Beziehungen. Ich wusste nicht, ob alle in die Sache verwickelt waren oder ob der Schütze und der Mörder (denn meiner Meinung nach waren sowohl Maria Parish als auch Rich Joyce ermordet worden) unabhängig voneinander agierten oder ob es ein und dieselbe Person war. Die drei Joyces und Lizzies Freund konnten alle mit Waffen umgehen, da war ich mir sicher. Vielleicht dachte ich in Klischees, doch ein Rancher wie Rich Joyce würde seinen Enkelinnen bestimmt nicht das Rodeoreiten beibringen und das Schießen vernachlässigen. Dasselbe galt natürlich erst recht für Drex und den Freund. Am wenigsten wusste ich über Chip Moseley. Er schien gut zu Lizzie zu passen. Er war genauso schlank und wettergegerbt und wirkte selbstbewusst und bodenständig. Er hatte mich skeptisch beäugt, aber das taten schließlich die meisten Leute.
Ich war schweißnass und begann langsam mit dem Abkühlen. Ich lief noch zehn Minuten in gemächlichem Tempo, trocknete mir dann das Gesicht mit dem Handtuch ab und kehrte auf unser Zimmer zurück. So langsam fing ich an, Hotelzimmer zu hassen. Ich hielt mich für keine gute Hausfrau, wünschte mir aber ein Zuhause, ein richtiges Zuhause. Ich wünschte mir einen Bettüberwurf, der nicht aus Kunstfasern bestand. Ich wünschte mir Bettwäsche, in der nur ich schlief. Ich wünschte mir, meine Kleidung zusammengefaltet aus dem Schrank holen zu können, statt in einem Koffer wühlen zu müssen. Ich wünschte mir ein Bücherregal und keinen Pappkarton. In unserer Wohnung gab es das alles, aber selbst sie wirkte nicht wie ein echtes Zuhause, sondern war einfach nur ein besseres Hotelzimmer.
Im Lift atmete ich tief durch und verdrängte diese Gedanken in einen Winkel meines Gedächtnisses. Dort lagerten viele Erinnerungen, aber jetzt, wo jemand Jagd auf uns machte, wollte ich mich durch nichts ablenken lassen. Da Tolliver außer Gefecht gesetzt war, musste ich doppelt vorsichtig sein.
Rudy Flemmons stand vor unserem Zimmer und wollte gerade anklopfen.
»Detective!«, rief ich. »Warten Sie einen Moment.«
Er erstarrte mit erhobener Faust, und ich sah sofort, dass etwas nicht stimmte.
Ich trat näher und musterte sein Gesicht beziehungsweise sein Profil. Er drehte sich nicht zu mir um.
»Oh nein!«, keuchte ich. »Kommen Sie, gehen wir hinein.« Ich ging an ihm vorbei, um die Tür aufzumachen, dann betraten wir das Zimmer. Ich machte das Licht an und hoffte, Tolliver nicht dadurch zu wecken. Doch dann sah ich, dass Licht im Bad brannte, und wusste, dass er wach war. Ich klopfte an die Tür. »Hallo, bist du da drin? Wir haben Besuch.«
»So früh?«, fragte er, und ich wusste, dass er schlecht geschlafen hatte.
»Komm da raus, mein Schatz«, sagte ich und hoffte, dass er die Botschaft begriff.
Das tat er und kam keine halbe Minute später ins Wohnzimmer. An der Art, wie er sich bewegte, sah ich, dass es ihm nicht gut ging. Ich beeilte mich, ihm Orangensaft aus unserem kleinen Kühlschrank zu holen. Rudy Flemmons brauchte ich offensichtlich keinen anzubieten, so sehr war er in sich zusammengesunken. Entweder er war tieftraurig oder aber extrem besorgt. Um das unterscheiden zu können, hätte ich ihn besser kennen müssen. Ich sah nur, dass es ihm schlecht ging.
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