Plötzlich begriff ich: Mrs Powers und Parkers Kollegen hatten gedacht, ich hätte eine Affäre mit ihm. Meine freimütigen Erklärungen hatten diesen Verdacht zerstreut. Sie fanden die Sache nicht wirklich komisch, sondern waren bloß erleichtert.
»Wir rannten die Reihen dieses großen Busdepots gegenüber der Highschool an der Jacaranda Street auf und ab.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie genickt wurde. »Wir hörten, wie ein Wagen auf den Busparkplatz fuhr, und Detective Powers und ich fühlten uns verfolgt. Aber dann ist er davongebraust. Wir beschlossen, lieber wieder zum Hotel zurückzukehren. Auf dem Rückweg sprang plötzlich dieser Typ aus einem Gebüsch und schoss auf uns. Ich weiß nicht, ob er auf mich oder auf Ihren Mann zielte, aber Detective Powers stieß mich sofort zur Seite. Deshalb fing er sich die Kugel ein, was mir wirklich sehr leid tut. Er war so tapfer, und ich fühlte mich furchtbar, weil er so schwer verletzt wurde. Ich setzte so schnell wie möglich einen Notruf ab.«
»Der hat ihm das Leben gerettet«, sagte Beverly. Ihr Gesicht war rund und sympathisch, aber ihre Augen sprachen eine andere Sprache. Egal in welcher Disziplin – diese Frau war eine beinharte Konkurrentin.
Ich war heilfroh, keine Affäre mit ihrem Mann gehabt zu haben.
»Bitte kommen Sie und besuchen Sie ihn«, sagte Beverly.
»Ist er bei Bewusstsein?«
»Nein«, sagte sie, und an ihrem Tonfall merkte ich, dass Detective Powers vielleicht nie wieder das Bewusstsein erlangen würde.
Die große Frau nahm meinen Arm, führte mich in einen verglasten Raum und sah ihren Mann an. Er sah furchtbar aus und war völlig weggetreten. Ich weiß nicht, ob das an den Medikamenten lag oder ob er sich im Tiefschlaf oder im Koma befand.
»Es tut mir so leid«, sagte ich. Er würde sterben. Ich kann mich auch täuschen – der Tod kann über den Menschen hängen wie ein Schatten, der sich niemals senkt –, aber bei Detective Powers war ich mir ziemlich sicher. Ich wünschte, dass ich mich irrte.
»Danke, dass Sie mir noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm geschenkt haben«, sagte sie. Wir standen eine Weile schweigend da.
»Ich muss zurück zu meinem Bruder«, sagte ich. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mit mir geredet und mir erlaubt haben, ihn zu sehen. Bitte sagen Sie ihm, wie dankbar ich ihm bin für das, was er für mich getan hat.«
Ich tätschelte Beverly unbeholfen die Schulter und bahnte mir einen Weg zu Manfred, der meine Hand nahm und auf den Liftknopf drückte. Die Tür öffnete sich sofort, und wir betraten einen leeren Fahrstuhl. Ich betete darum, dass sich die Tür schloss und die traurige Szene unseren Blicken entzog.
»Ich bin froh, dass du dabei warst«, sagte ich. »Das muss ziemlich anstrengend für dich gewesen sein.«
»Ach, Quatsch, ich liebe es, in die Höhle des Löwen zu gehen, mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: Heute frisches Lammfleisch.« Jetzt, wo wir allein waren, sah der kurz zuvor noch so ausdruckslose Manfred genauso erleichtert aus wie ich.
Wir hielten uns dermaßen fest an den Händen, dass sich unsere Knochen berührten. Genau in dem Moment, als ich merkte, wie weh das tat, lockerte er seinen Griff.
»Das war heftig«, sagte er mehr oder weniger normal. »Was machen wir jetzt? Mit Alligatoren ringen?«
»Nein, ich dachte, wir gehen mittagessen. Und danach muss ich zu Tolliver.« Wir fuhren gerade zurück zum Hotel, als Manfred fragte: »Hat der Arzt schon verraten, wann Tolliver entlassen wird?«
»Er darf morgen raus. Ich werde ihn allerdings pflegen müssen. Vielleicht sollte ich mich um eine Suite in einem anderen Hotel bemühen und aus dem jetzigen Zimmer ausziehen. Kann sein, dass wir noch ungefähr eine Woche bleiben, denn der Arzt meinte, dass Tolliver Ruhe braucht. Er muss überwiegend liegen, und ich möchte ihn nicht beunruhigen.«
»Du bist also tatsächlich mit Tolliver zusammen? Und er ist der Richtige?«, fragte Manfred plötzlich ernst.
»Er ist der Richtige«, bestätigte ich. »Das war er schon, als ich ihm das erste Mal begegnete. Aber du warst immer die zweitbeste Lösung.« Ich rang mir ein Lächeln ab, und zu meiner Erleichterung wurde es erwidert.
»Dann werde ich meinen Suchradius wohl oder übel erweitern müssen«, sagte er theatralisch. »Vielleicht ziehe ich eine Meerjungfrau an Land.«
»Wenn hier jemand eine Meerjungfrau findet, dann du«, sagte ich.
»Apropos Meerjungfrauen: Suchst du gerade im Rückspiegel nach einer oder hast du nur Angst wegen meines Fahrstils?«
»Ich versuche herauszufinden, ob uns jemand folgt. Das ist mir hier schließlich schon mal passiert, aber ich kann beileibe niemanden entdecken. Nur gut, dass ich keine Polizistin bin.« Manfred hielt ebenfalls die Augen offen, aber auch ihm fiel kein Wagen auf, der unsere Manöver imitierte. Bei dem Verkehrsaufkommen sagte das zwar nicht viel, aber ein bisschen beruhigt war ich trotzdem.
Als wir das Hotel erreichten, packte ich meine Sachen und checkte aus. Aber erst nachdem ich ein anderes Kettenhotel in der Nähe angerufen und nach einer Suite gefragt hatte. Wie sich herausstellte, war noch eine frei, und ich buchte sie unter Tollivers Namen. Der anonyme Anrufer hatte meine Hoteladresse gekannt. Obwohl es ihm nicht schwerfallen dürfte, mich erneut ausfindig zu machen, musste ich es ihm nicht extra leicht machen. Ich reservierte die Suite für sechs Nächte. Bestimmt konnte ich jederzeit früher abreisen, wenn Tolliver schon vorher reisefähig wäre. Ich rief auch Mark an, um ihm zu sagen, wo wir steckten. Dann fuhr mich Manfred zum neuen Hotel und half mir mit unserem Gepäck.
Anschließend gingen wir in ein Familienrestaurant mit einer langen Salatbar. Es wurde Zeit, dass ich endlich etwas aß, das nicht ungesund war. Also türmte ich Salat und Obst auf meinen Teller. Zu meiner Überraschung tat Manfred das Gleiche.
Mein Begleiter liebte es, Konversation zu machen, besser gesagt, zu reden. Während ich zuhörte, fragte ich mich, wie Manfred wohl mit Gleichaltrigen zurechtkam. Er musste so einiges loswerden, über das er sonst nur selten reden konnte. Es ging hauptsächlich um Xylda, darum, wie sehr er sie vermisste, was sie ihm alles beigebracht hatte und welche merkwürdigen Gegenstände er in ihrem Haus gefunden hatte.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich, als eine kurze Pause entstand.
Er zuckte die Achseln. Er wirkte stolz, aber auch verlegen. »Ich wusste, dass du mich brauchst«, sagte er und wandte den Blick ab.
»Ich würde dich gern einigen von diesen Leuten vorstellen. Und danach erzählst du mir, was du gesehen hast«, sagte ich. »Ich muss mir nur einen plausiblen Grund dafür ausdenken.«
Er schien sich wahnsinnig zu freuen, mir helfen zu können.
»Natürlich nur, wenn du nicht gleich wieder nach Hause musst«, sagte ich.
»Nein«, meinte er. »Ich kann inzwischen viel übers Internet erledigen, und für diese Woche habe ich noch keine Aufträge. Ich habe meinen Laptop und mein Handy dabei, das müsste reichen. Nach was soll ich Ausschau halten?« Sein Schalk verließ ihn, und plötzlich sah ich einen deutlich älteren Manfred vor mir.
»Nach allem, was mit diesen Leuten zu tun hat«, sagte ich. »Jemand hat auf Tolliver geschossen. Jemand hat auf Detective Powers geschossen, auch wenn man es wahrscheinlich auf mich abgesehen hatte. Und ich glaube, dass es einer von ihnen war. Ich möchte wissen, warum.«
»Nicht wer?«
»Na ja, das natürlich auch. Aber das Warum ist äußerst wichtig. Ich muss wissen, ob ich das Ziel bin oder nicht.«
Er nickte. »Verstehe.«
Wir fuhren zurück zum Krankenhaus, und Manfred setzte mich vor dem Seiteneingang ab. Unauffälliger konnte ich das Krankenhaus leider nicht betreten. Ich huschte hinein und ging auf die Aufzüge zu. Ich hatte nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, und niemand schien in der Lobby herumzulungern. Alle, die ich sah, schienen ein Ziel zu haben, und niemand sprach mich an.
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