Zu meiner Überraschung saß Parker Powers, der Ex-Footballer, in der Lobby meines Hotels.
»Warten Sie auf mich?«, fragte ich und ging auf ihn zu.
»Ja. Können wir reden?« Er musterte mich durchdringend.
»Was wollen Sie wissen?«
»Ich wollte Ihnen noch ein paar Fragen zu Ihrem Bruder stellen. Gestern Abend gab es ein paar Blocks weiter ein Drive-by-Shooting, und wir versuchen herauszufinden, ob der Schuss auf Ihren Bruder etwas damit zu tun hatte. Wie ich höre, geht es ihm besser.«
Wenn er das nicht gesagt hätte, hätte ich nicht angebissen. Ich hatte dieses Leuchten in seinen Augen gesehen. Aber wenn er in Tollivers Fall ernsthaft ermittelte, wollte ich ihm helfen. Ich wollte wissen, wer auf meinen Bruder geschossen hatte. Trotzdem hatte ich nicht vor, dieses Thema in der Lobby weiter zu vertiefen. Und bei diesem Leuchten in seinen Augen würde ich ihn auch nicht auf mein Zimmer bitten.
»Ich wollte gerade laufen gehen«, sagte ich. »Begleiten Sie mich?«
»Klar«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich habe Laufschuhe im Wagen. Sie sollten sich lieber nicht allein hinauswagen, wenn es jemand auf ihren Bruder abgesehen hat. Wir wissen immer noch nicht, warum auf ihn geschossen wurde. Vielleicht hat es was mit dem Drive-by-Shooting zu tun, vielleicht aber auch nicht.«
»Ich bin in zehn Minuten zurück«, sagte ich und ging nach oben auf mein Zimmer. Ich besaß ein Schlüsselband mit einer rechteckigen Plastikhülle, in die ich meine Hotel-Schlüsselkarte und den Führerschein steckte. Ich zog meine Trainingshose, ein T-Shirt und meine Laufschuhe an und war fertig. Dann steckte ich das Plastikrechteck unter mein T-Shirt und hüpfte ein paarmal auf und ab, um zu überprüfen, ob alles sicher verstaut war. Ich steckte mein Handy in die Hosentasche, zog den Reißverschluss zu und ging hinunter in die Lobby.
Parker wartete schon auf mich. Er trug alte Shorts und ein ausgeleiertes Sweatshirt. Ich nickte ihm zu, und wir gingen hinaus auf den Parkplatz und machten Dehnübungen. Ich hatte den Verdacht, dass Parker schon länger nicht mehr trainiert hatte. Anscheinend waren die Shorts und das Sweatshirt seine Klamotten fürs Fitnesscenter, denn ich konnte das Spiel seiner Muskeln sehen, obwohl er einen leichten Bauchansatz hatte. Ich merkte, dass ihn das Training nicht gerade begeisterte, aber er genoss es, mich zu beobachten.
»Fertig?«, fragte ich, und er nickte verbissen. Er machte eher den Eindruck, als wartete die Guillotine auf ihn statt eine angenehme abendliche Joggingrunde.
Und schon ging es los, den Bürgersteig hinunter und an mehreren Häuserblöcken vorbei. Es folgten weitere Häuserblöcke und das Highschoolgelände. Die Straßenbeleuchtung war ausgezeichnet, und alle schienen zu Hause zu sitzen. Es war kühl, und überall standen noch Pfützen vom vorherigen Regenguss. In regelmäßigen Abständen fuhren Autos vorbei, einige schneller als erlaubt, andere extrem langsam. Aber da es einen Bürgersteig gab, war das keinerlei Problem. Ich fragte mich, ob einige Fahrer meinen Laufpartner erkannten.
Die frische Luft tat mir gut. Ich lief in einem gemächlichen Tempo, genoss die Dehnung in den Beinen und meinen erhöhten Puls. Die Aschenbahn der Highschool war von einem hohen Zaun umgeben, das Tor war natürlich verschlossen. Ich führte meinen Laufpartner über die Straße auf den großen Parkplatz voller Schulbusse. Parker hielt mit mir Schritt. Ich warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu und sah, dass er selbstzufrieden lächelte. Ich beschleunigte mein Tempo, und das Lächeln verblasste schnell. Nachdem wir eine Weile richtig gelaufen waren, rang Parker nach Luft. Das Einzige, was ihn noch antrieb, war sein Stolz.
Aber auf dem nächsten Kilometer verließ ihn auch der. Es gab drei Reihen mit Bussen, und wir waren von der Straße bis ans Ende der ersten Reihe gelaufen und dann auf der anderen Seite wieder zurück. Jetzt umrundeten wir gerade die zweite Reihe, um wieder bis ans Ende zu laufen. Ich war so richtig in Schwung und fühlte mich prima, aber Parker blieb stehen und stützte sich schwer atmend auf die Oberschenkel. Ich lief auf der Stelle weiter. Er gab mir ein Zeichen, dass ich weiterlaufen sollte. »Bleiben Sie in Sichtweite«, sagte er, wobei er jedes Wort einzeln hervorstieß.
Ich winkte ihm zu und lief weiter. Ich lief nur halb so gut wie mein Bruder, aber an jenem Abend fühlte ich mich, verglichen mit Parker, leicht wie eine Feder. Ich musterte die stumme Reihe Busse, roch die Pfützen und den Asphalt, den der Abendregen gereinigt hatte. Ich blickte kurz über die Schulter und merkte, dass mir Parker in einem ordentlichen Tempo folgte. Doch so langsam verließ ich den Bereich, der sich noch in seiner Sichtweite befand. Mit leichtem Bedauern umrundete ich die letzte Reihe Busse nicht, sondern machte kehrt und nahm die Strecke, die ich gekommen war. Hinter den Bussen musste noch eine andere Straße verlaufen, denn ich hörte aus dieser Richtung ein langsam fahrendes Auto. In diesem Moment folgten mir Autoscheinwerfer, die Parkers Gesicht erhellten und meinen langen Schatten vor mir auf den Asphalt warfen. Angst stieg in mir auf, und ich wurde langsamer, weil ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Das Geräusch hinter mir stammte eindeutig von einem Motor im Leerlauf … aber es kam näher.
Der Detective war zwar geblendet, steigerte aber sein Tempo und rannte auf mich zu. Als er näher kam, griff er unter sein Sweatshirt und zog eine Waffe. Ich begriff nicht gleich und glaubte, er würde auf mich schießen. Ich zögerte. Das Motorengeräusch kam näher.
»Laufen Sie! «, brüllte er mich an.
Ich verstand rein gar nichts, wurde aber immer schneller. Meine Arme sausten durch die Luft, wie um Schwung zu holen. Als ich ihn erreicht hatte, stieß mich Parker zwischen zwei Busse und wirbelte mit seiner schussbereiten Waffe zu dem herankommenden Wagen herum. Der Wagen brach zur Seite aus, wahrscheinlich, weil der Fahrer die auf ihn gerichtete Waffe bemerkte. Dann beschleunigte er mit quietschenden Reifen, schlingerte vom Parkplatz und brauste davon.
»Was war denn das?«, sagte ich. »Was war das?« Ich sprang zwischen den Bussen hervor, um meinem Retter gegenüberzutreten, und breitete die Arme aus. »Was war das?«, schrie ich.
»Eine Morddrohung«, sagte er, und sein Atem ging immer noch unregelmäßig. »Wir haben heute eine Morddrohung gegen Sie erhalten. Ich wollte nicht, dass sie allein laufen. Sie hätten ein leichtes Ziel abgegeben.«
»Warum haben Sie mir nichts davon erzählt? Deshalb haben Sie eingewilligt, mit mir laufen zu gehen!«
»Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie eine solche Gesundheitsfanatikerin sind«, sagte er unsportlicherweise. »Ich wollte Sie nur warnen, Ihnen von dem Drive-by-Shooting erzählen.«
»Also statt …«, stammelte ich. Dann schloss ich die Augen, riss mich zusammen und richtete mich auf. »Wissen Sie, von wem diese Morddrohung stammt?«
»Nein, es war eine Männerstimme. Der Typ sagte, Sie wären des Teufels und so. Dass Sie in Texas nichts zu suchen hätten und er sich schon darum kümmern würde, wenn er Sie das nächste Mal sähe. Er hat auch Ihr neues Hotel genannt.«
Das mit dem Anruf traf mich auch so schon ziemlich unvorbereitet, aber als Parker dann noch erwähnte, dass der Anrufer den Namen meines Hotels kannte, war ich wirklich beunruhigt. Ich wusste, dass ich die Sache ernst nehmen musste.
»Glauben Sie, er saß in dem Auto? Oder haben Sie nur ein paar Teenagern, die da hinten parkten, eine Heidenangst eingejagt?« Meine Beinmuskulatur verhärtete sich, also wippte ich sanft auf den Fußballen und beugte mich dann zu meinen Zehen.
»Keine Ahnung«, sagte Parker düster. »Allerdings konnte ich einen Teil des Kennzeichens erkennen und werde es durch den Computer laufen lassen.«
Plötzlich wurde mir klar, dass sich dieser Mann vor mich gestellt hatte, als er dachte, jemand würde auf mich schießen. Dieser unglaubliche Akt traf mich wie ein Schuss.
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