Es wurde Zeit, aufs Polizeirevier zu gehen, um die Bänder aus dem Einkaufszentrum in Texarkana anzuschauen. Mein Magen zog sich nervös zusammen. Ich hatte mich bemüht, zu verdrängen, dass Cameron gesehen worden war. Aber als ich meine Vitamintabletten nahm, sah ich, dass meine Hände zitterten. Ich hatte im Krankenhaus angerufen, um mich nach Tolliver zu erkundigen. Die Schwester hatte gesagt, dass er die Nacht mehr oder weniger durchgeschlafen hätte, also konnte ich den Krankenbesuch guten Gewissens auf später verschieben.
Der Schlaf und das Essen hatten mir gutgetan, und ich fühlte mich wieder mehr wie ich selbst, trotz meiner Nervosität. Das Polizeirevier befand sich in einem einstöckigen Gebäude, das aussah, als hätte es klein angefangen und anschließend Wachstumshormone genommen. Man hatte einige Anbauten hinzugefügt, trotzdem platzte es eindeutig aus allen Nähten. Ich tat mich schwer, einen Parkplatz zu finden, und als ich gerade aus dem Wagen stieg, begann es zu regnen. Erst nieselte es nur, aber als ich überlegte, ob ich den Schirm mitnehmen sollte oder nicht, begann es zu schütten. Ich nahm den Schirm und spannte ihn in Rekordzeit auf. So gesehen war ich nicht allzu nass, als ich die Empfangshalle betrat.
Auf die eine oder andere Art habe ich schon viel Zeit auf Polizeirevieren verbracht. Egal, ob sie nun neu oder alt sind – sie ähneln sich alle. So wie Schulen und Krankenhäuser.
Es gab keinen geeigneten Ort, um meinen Schirm zu verstauen, also musste ich ihn mitnehmen. Ich hinterließ überall Tropfspuren und wusste, dass der Hausmeister heute noch viel zu tun haben würde. Die Latina hinter dem Tresen war schlank, muskulös und sehr professionell. Über eine Gegensprechanlage rief sie Detective Flemmons, und ich musste nur wenige Minuten auf ihn warten.
»Guten Morgen, Miss Connelly«, sagte er. »Kommen Sie mit.« Er führte mich in ein Labyrinth aus Arbeitsplätzen, die durch brusthohe Trennwände voneinander abgeschirmt waren. Als wir hindurchgingen, merkte ich, dass jeder Arbeitsplatz nach dem Geschmack seines Benutzers dekoriert war. Sämtliche Computer waren schmutzig: Die Tastaturen waren verklebt, die Bildschirme dermaßen eingestaubt, dass man die Augen zusammenkneifen musste, um überhaupt etwas zu erkennen. Stimmengewirr hing über dieser Arrestzelle wie eine Rauchwolke.
Das war kein angenehmer Ort. Obwohl mich die Polizei oft für eine Betrügerin und Schwindlerin hält, weshalb ich mit einzelnen Beamten oft nicht gut klarkomme, bin ich insgesamt schon sehr froh, dass es Leute gibt, die diesen Job machen. »Sie müssen sich den ganzen Tag Lügen anhören«, dachte ich laut. »Wie halten Sie das bloß aus?«
Rudy Flemmons drehte sich um und sah mich an. »Das gehört einfach dazu«, sagte er. »Irgendjemand muss sich ja zwischen die Normalbürger und die Bösen stellen.«
Mir fiel auf, dass der Detective nicht »die Guten« gesagt hatte. Wenn ich schon so lange bei der Polizei wäre wie Flemmons, würde ich wahrscheinlich auch niemanden mehr als gut bezeichnen.
Am Ende des Labyrinths lag eine Art Besprechungsraum mit einem langen Tisch, um den ramponierte Stühle standen. An einem Ende war die Videoausrüstung aufgebaut worden. Nachdem ich mich gesetzt hatte, machte Flemmons das Licht aus und drückte auf einen Knopf.
Ich war so angespannt, dass der ganze Raum summte. Ich starrte auf den Bildschirm, aus Angst, etwas zu verpassen.
Gleich darauf sah ich eine Frau, die Ende zwanzig oder Anfang dreißig zu sein schien und über einen Parkplatz lief. Ihr Gesicht war nicht deutlich zu erkennen. Es war teilweise abgewandt. Sie hatte lange blonde Haare, war klein und gedrungen. Ich schlug die Hände vor den Mund, um keinen Laut zu geben, bis ich wusste, was ich sagen wollte.
Die Szene wechselte abrupt und zeigte dieselbe Frau beim Betreten des Einkaufszentrums. Sie trug eine Einkaufstüte von Buckle. Diese Aufnahme war frontal gemacht worden. Obwohl der Film grobkörnig und sie nur kurz zu sehen war, schloss ich die Augen und spürte, wie mir mein Magen in die Kniekehle rutschte.
»Das ist sie nicht«, sagte ich. »Das ist nicht meine Schwester.« Ich glaubte, weinen zu müssen – meine Augen brannten –, aber ich weinte nicht. Aber meine Anspannung und die anschließende Enttäuschung (oder Erleichterung) waren enorm.
»Sind Sie sicher?«
»Nicht ganz.« Ich zuckte die Achseln. »Wie auch, wenn ich ihr nicht direkt ins Gesicht sehen kann? Seit ich meine Schwester zum letzten Mal gesehen habe, sind mehr als acht Jahre vergangen. Aber ich kann sagen, dass das Gesicht dieser Frau runder ist. Und ihr Gang ist auch nicht der von Cameron.«
»Lassen Sie uns das Band noch mal ansehen, um ganz sicher zu sein«, sagte Flemmons sachlich. Ich richtete mich auf und sah es mir erneut an. Diesmal konnte ich besser auf Kleinigkeiten achten.
Die Frau von den Parkplatzaufnahmen trug eine riesige Handtasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Schwester sich je so etwas aussuchen würde. Natürlich ändert man seinen Geschmack, wenn man älter wird, aber dass sich Camerons Taschengeschmack dermaßen anders entwickelt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Die Einkäuferin trug hochhackige Schuhe zur Hose, und Cameron hielt nichts von hohen Absätzen im Alltag. Dennoch konnte sie natürlich ihren Schuhgeschmack ebenso wie den Handtaschengeschmack geändert haben. Ich trug auch nicht mehr dieselben Accessoires wie damals auf der Highschool. Aber die Gesichtsform der Frau und die Art, wie sie sich in dem Film bewegte, nämlich mit leicht eingefallenen Schultern – nein, diese Frau konnte unmöglich Cameron sein.
»Sie ist es auf gar keinen Fall«, sagte ich nach dem zweiten Anschauen. Ich war jetzt viel ruhiger. Der Schock war vorbei, und ich begriff, dass wieder eine Hoffnung enttäuscht worden war.
Rudy Flemmons senkte kurz den Blick, und ich fragte mich, was er wohl vor mir verbarg. »Na gut«, sagte er leise. »Na gut. Ich werde Pete Gresham Bescheid geben. Ich soll Sie übrigens von ihm grüßen.«
Ich nickte. Jetzt, wo ich das Band angeschaut hatte und wusste, dass diese Frau nicht meine Schwester war, platzte ich schier vor Neugier, wer der Anrufer gewesen war.
Ich versuchte, ein paar Fragen zu stellen, aber Detective Flemmons hielt sich bedeckt. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiß«, sagte er, was mich natürlich enttäuschte.
Ich spannte wieder meinen Schirm auf und eilte zum Wagen. Während ich den Schirm ausschüttelte und hinterm Lenkrad Platz nahm, spürte ich, wie das Handy in meiner Tasche vibrierte. Ich warf den Schirm auf die Rückbank, knallte die Tür zu und klappte das Handy auf.
»Mariah Parish hatte tatsächlich ein Kind«, sagte Victoria Flores.
»Darfst du mir das überhaupt sagen?«
»Ich habe bereits mit Lizzie Joyce gesprochen. Ich suche jetzt nach dem Kind. Nach Lizzies Auftrag habe ich Stunden am Computer verbracht und Erkundigungen eingeholt. Die ganze Sache ist äußerst merkwürdig, das kann ich dir sagen. Da sie erlaubt hat, dass du mit mir redest, gehe ich davon aus, dass ich auch mit dir reden darf.« Victoria, die immer so verschlossen und nüchtern wirkte, sprudelte förmlich über vor Mitteilungsdrang.
»Das ist zwar nicht unbedingt gesagt, aber wie du weißt, werde ich niemandem davon erzählen.« Ich muss zugeben, dass ich selbst neugierig war.
»Wollen wir zusammen essen gehen? Ich nehme an, dass du nicht viel rauskommst, jetzt wo dein Süßer im Krankenhaus liegt.«
»Das klingt gut.«
»Prima, wie wär’s mit dem Outback Steakhouse? Es gibt eines ganz in der Nähe des Krankenhauses.« Sie nannte mir die Adresse, und ich versprach, sie dort um halb sieben zu treffen.
Ich staunte nicht schlecht, dass Victoria so gesprächig war. Ihr Interesse, mit mir zu reden, war irgendwie merkwürdig. Aber es stimmte, ich fühlte mich einsam. Es tat gut zu wissen, dass jemand mit mir reden wollte. Iona hatte genau einmal angerufen, um sich nach Tolliver zu erkundigen, aber es war ein kurzes, pflichtschuldiges Gespräch gewesen.
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