»Von einem Detective aus Texarkana. Er heißt Peter Gresham und ist ein Freund von mir.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte ich seufzend. Ich hatte keine Lust, schon wieder über das Verschwinden meiner Schwester zu sprechen. Heute war der reinste Cameron-Trauertag.
»Er meinte, es habe jemand wegen Ihrer Schwester angerufen.«
»Was war das für ein Anruf?« Es gibt mehr Verrückte als man denkt …
»Jemand hat sie im Einkaufszentrum von Texarkana gesehen.«
Mir verschlug es kurz den Atem, und ich japste nach Luft. »Cameron? Wer hat sie gesehen? Jemand, der sie von früher kennt?«
»Es war ein anonymer Anruf. Ein Mann rief von einem öffentlichen Telefon an.«
»Oh«, sagte ich und fühlte mich, als hätte mir soeben jemand einen Magenschwinger versetzt. »Aber … wie kann ich herausfinden, ob das stimmt? Wie kann ich dafür sorgen, dass sich diese Person meldet? Gibt es da irgendeine Möglichkeit?«
»Erinnern Sie sich noch an Pete Gresham? Er hat die Ermittlungen im Fall Ihrer Schwester geleitet.«
Ich nickte. Ich erinnerte mich an ihn, aber nur vage. Wenn ich an die schlimme Zeit unmittelbar nach Camerons Verschwinden zurückdenke, spüre ich nichts als Angst. »Er war recht groß«, sagte ich. Dann fügte ich schon etwas unsicherer hinzu: »Und er trug ständig Cowboystiefel. Er bekam eine Glatze, obwohl er noch recht jung war.«
»Ja, genau das ist er. Inzwischen ist Pete kahl. Das bisschen, was da noch wächst, rasiert er ab.«
»Was hat er wegen des Anrufs unternommen?«
»Er hat sich die Bänder der Überwachungskameras angesehen.«
»Die aus dem Einkaufszentrum?«
»Ja, und darauf ist der Parkplatz auch ziemlich gut zu erkennen, sagt Pete.«
»War sie da?« Ich würde schreien, wenn er es mir nicht sofort sagte.
»Da war eine Frau, auf die die Beschreibung Ihrer Schwester zutrifft. Aber es gibt keine deutliche Aufnahme von ihrem Gesicht. Wir können also nicht feststellen, ob sie wirklich Cameron Connelly ist.«
»Kann ich das Band sehen?«
»Ich werde mich bemühen, das zu arrangieren. Normalerweise würden Sie wahrscheinlich selbst nach Texarkana fahren. Aber jetzt, wo Mr Lang noch mehrere Tage im Krankenhaus bleiben muss, können wir es vielleicht so einrichten, dass Sie die Bänder bei uns auf dem Revier anschauen.«
»Das wäre fantastisch!«, sagte ich. »Ansonsten müsste ich ihn zu lange allein lassen.« Ich versuchte, mich zur Ruhe zu zwingen.
Bevor ich mich zusammenreißen konnte, beugte ich mich über Tolliver und nahm seine Hand. Sie war kalt, und ich nahm mir vor, die Schwester um eine weitere Decke zu bitten. »Hallo, du«, sagte ich. »Hast du gehört, was der Detective gesagt hat?«
»Zum Teil«, sagte Tolliver. Es war mehr ein Murmeln, aber ich konnte ihn verstehen.
»Er versucht, die Bänder von dem Einkaufszentrum zu bekommen, damit ich sie mir hier anschauen kann«, sagte ich. »Vielleicht stoßen wir endlich doch noch auf eine Spur.« Ich konnte kaum glauben, dass ich keine Stunde zuvor mit Victoria genau über dieses Thema gesprochen hatte.
»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen«, sagte Tolliver schon etwas deutlicher. »Das hatten wir schon mal.«
Ich wollte nicht an all die bisherigen falschen Zeugen denken. »Ich weiß«, sagte ich. »Aber vielleicht haben wir ja diesmal Glück?«
»Sie wäre nicht mehr dieselbe«, sagte Tolliver mit vollständig geöffneten Augen. »Das ist dir doch klar, oder? Sie wäre nicht mehr dieselbe.«
Ich beruhigte mich sofort. »Ja, ich weiß«, sagte ich. Sie würde nie mehr so sein wie früher. Dafür waren zu viele Jahre vergangen. Dafür war einfach zu viel passiert.
»Wenn du nach Texarkana fahren möchtest …«, hob Tolliver an.
»Ich lasse dich nicht allein«, sagte ich sofort.
»Aber wenn du fahren möchtest, fahr!«, bot er mir an.
»Ich weiß das sehr zu schätzen«, erwiderte ich. »Aber ich werde nicht fahren, solange du hier im Krankenhaus liegst.« Ich konnte kaum glauben, was ich da sagte. Seit Jahren wartete ich auf Neuigkeiten über meine Schwester. Jetzt, wo es tatsächlich eine Spur gab, so merkwürdig und unzuverlässig sie auch war, sagte ich Tolliver, dass ich mich nicht sofort darauf stürzen würde.
Ich setzte mich auf den Stuhl neben seinem Bett. Ich legte meine Stirn auf das Baumwolllaken, das meinen Bruder bedeckte. Ich hatte mich ihm noch nie so verpflichtet gefühlt.
Detective Flemmons hatte uns ungerührt zugehört, ohne seinen Senf dazuzugeben, wofür ich ihm äußerst dankbar war.
Er sagte: »Ich rufe Sie an, wenn wir so weit sind.«
»Danke«, erwiderte ich und fühlte mich wie betäubt.
Als der Detective weg war, sagte Tolliver: »Das ist nur fair.«
»Was?«
»Du wurdest statt mir angeschossen. Und jetzt werde ich statt dir angeschossen. Vorausgesetzt, er hat recht. Glaubst du, der Schütze hatte es auf dich abgesehen?«
»Hm«, sagte ich. »Aber als auf mich geschossen wurde, hätten sie mich beinahe verfehlt. Es war schließlich nur ein Streifschuss. Aber wer auf dich geschossen hat, hat besser gezielt.«
»Ach so«, meinte er. »Auf mich schießen also effizientere Leute.«
»Diese Schmerzmittel müssen ziemlich gut wirken.«
»Sie wirken ausgezeichnet«, sagte er verträumt.
Ich lächelte. Es kam nicht oft vor, dass Tolliver so entspannt war. Ich wollte nicht mehr über Cameron nachdenken, ganz einfach, weil ich nicht wusste, was ich mir wünschen sollte.
Sein Dad klopfte an die Tür und trat ein, bevor wir auch nur den Mund aufmachen konnten. Damit war es vorbei mit unserer trauten Zweisamkeit.
Matthew sah ein wenig mitgenommen aus, was nicht weiter überraschend war, wenn man bedenkt, wie lange wir am Vortag wach gewesen waren. Er hatte mir erzählt, dass er bei McDonald’s Frühschicht hatte. Er hatte sich offensichtlich Zeit genommen, nach der Arbeit zu duschen, denn er roch nicht nach McDonald’s.
»Tolliver, dein Dad hat mir geholfen, als wir den Krankenwagen riefen«, sagte ich, denn Ehre wem Ehre gebührt. »Und er war im Krankenhaus, bis wir erfuhren, dass du außer Lebensgefahr bist.«
»Bist du dir sicher, dass er nicht auf mich geschossen hat?«
Wenn ich nicht mehrere Jahre mit Matthew Lang zusammengelebt hätte, wäre ich jetzt völlig schockiert gewesen.
»Mein lieber Sohn, wie kannst du nur so etwas sagen?«, fragte er verletzt und wütend. »Ich weiß, dass ich kein guter Vater war …«
»Kein guter Vater? Weißt du noch, wie du Cameron die Waffe an den Kopf gehalten und gesagt hast, dass du ihr Hirn wegpustest, wenn ich dir nicht verrate, wo ich deine Drogen versteckt habe?«
Matthews Schultern sackten kraftlos nach vorn. Wahrscheinlich hatte er es geschafft, diesen kleinen Vorfall zu verdrängen.
»Und jetzt fragst du mich, wie ich bloß auf die Idee komme, du könntest auf mich geschossen haben?« Wenn Tollivers Stimme nicht so schwach gewesen wäre, hätte er getobt vor Wut. Aber so klangen Tollivers Worte dermaßen traurig, dass ich am liebsten geweint hätte. »Ich kann mir das sogar sehr gut vorstellen, Dad.«
»Aber das hätte ich doch niemals getan«, sagte Matthew Lang. »Ich liebte dieses Mädchen. Ich habe euch alle geliebt. Ich war einfach nur ein verdammter Junkie, Tolliver. Ich war ein Wrack, und das weiß ich auch. Ich bitte dich um Vergebung, jetzt, wo ich endlich clean bin. Ich werde es nicht wieder versauen, Sohn.«
»Du wirst deinen Worten Taten folgen lassen müssen«, sagte ich und sah, wie erschöpft Tolliver schon nach fünf Minuten mit seinem Vater war. »Und da wir gerade dabei sind, in schönen Erinnerungen zu schwelgen, fallen mir bestimmt auch noch ein paar ein. Du warst gestern Abend da … prima. Das war gut, aber es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein.«
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