Er hatte soeben eine der inneren Glastüren geöffnet, als das Motorrad erschien und auf die Straße fuhr. Amad war blitzschnell an der Ecke und bog in die Straße zum Strand ein.
»Unser Freund sitzt auf einem Motorrad!«, brüllte der Agent ins Mikrofon seines Funkgeräts.
Die Scharfschützen folgten Amad und nahmen ihn aufs Korn, doch er verschwand um die Ecke, ehe sie den Befehl zum Feuern erhielten.
Auf dem Strand drang diese Nachricht in drei Taxis, die von MI5-Agenten gelenkt wurden, aus den Lautsprechern der Funkradios. Sie verließen ihre Parkplätze am Bordstein und versuchten, die Straße zu blockieren und die Ural aufzuhalten. Amad wich zur Seite aus und jagte auf dem Bürgersteig an ihnen vorbei, dann schwenkte er auf die Fahrbahn zurück und gab Vollgas. Stetig schneller werdend, schlängelte er sich wie ein Wahnsinniger durch den Verkehr.
Weit voraus versuchte ein von einem MI5-Agenten gelenkter Lastwagen, die Straße zu blockieren, doch Amad zwängte sich auch an ihm vorbei.
Jetzt brauchte er nur noch die Bombe an den vorgesehenen Ort zu bringen oder bei dem Versuch auf der Strecke zu bleiben. So oder so wäre er ein Märtyrer. So oder so würde London brennen.
Cabrillo blickte die Straße hinunter und sah, wie die Fahrzeuge des MI5 ausgetrickst wurden. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass das Zielobjekt ein Motorrad benutzen würde, und das war wie ein Schraubenschlüssel im Getriebe der ganzen Operation. Es gab nur eins, was in diesem Moment getan werden konnte — und Cabrillo zögerte keine Sekunde.
Er hievte einen Zeitungsautomaten vom Bürgersteig hoch und wuchtete ihn durch die Schaufensterscheibe des Motorradladens im Parterre des Gebäudes. Der Alarm heulte los. Cabrillo kletterte durch die geborstene Scheibe. Im Zündschloss der schwarzen 1952er Vincent Black Shadow steckte der Schlüssel. Nachdem er mit dem Fuß die Scherben vom Rahmen der Maschine gewischt hatte, trat er auf den Kickstarter, und der Motor sprang an. Er hob das Vorderrad der Vincent über den Fensterrahmen, legte den Gang ein und setzte über die Fensterbank hinaus auf den Bürgersteig.
Die Ural jagte an dem Motorradladen vorbei und schoss den Strand hinunter.
Cabrillo gab Gas und folgte ihr. Die Ural war zwar schnell, doch es gab kein besseres Motorrad als die Black Shadow. Hätte die Ural nicht einen Vorsprung von einem Block gehabt, die Shadow hätte sie innerhalb von Sekunden eingeholt.
»Die Zielperson sitzt auf einem grünen Motorrad mit Beiwagen und fährt den Strand hinunter«, brüllte Fleming über Funk. »Der Kerl hat die Bombe bei sich. Ich wiederhole, die Bombe befindet sich im Beiwagen.«
Der Robinson mit Adams und King stieg auf. In der Nähe des Trafalgar Square brachten Pete Jones und Julia Huxley — als Ärztin der Corporation eher für lebenserhaltende Maßnahmen zuständig — ihre Gewehre in Anschlag und visierten die Straße an. Hunderte von Menschen drängten sich dort, und sie suchte eine Position für einen sauberen Schuss, hatte damit aber keinen Erfolg. Vor dem War Cabinet Room wandten sich Mark Murphy und Franklin Lincoln vom Victoria Embankment ab und zielten in Richtung Hyde Park und Green Park. In der Piccadilly Street trennten sich Hali Kasim und Ross und nahmen beide Enden der Straße ins Visier.
Truitt hielt sich von den anderen Leuten hinter der Bühne fern, bis es Zeit wurde, hinauszugehen und sich vors Mikrofon zu stellen. Ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend wartete er auf seinen Auftritt.
»Es ist so weit«, sagte der Agent Elton Johns.
Truitt schaute zu dem MI5-Agenten hinüber, doch dieser sprach soeben in sein Funkgerät, daher gab sich Truitt einen Ruck, ging auf die Bühne und näherte sich dem Mikrofon.
»Ladies und Gentlemen«, begann er, »begrüßen Sie mit mir aus Anlass des Jahresbeginns den Lieblingsmusiker unserer Nation — Sir Elton John!«
Die Bühne war dunkel — bis auf den Spotscheinwerfer, der auf Truitt gerichtet war. Dann flammte ein weiterer Scheinwerfer auf und tauchte Elton John in gleißendes Licht. Er saß an einem erhöhten Flügel, trug immer noch den gelben Overall, sein Kopf war mit einem Kevlarhelm der englischen Armee bedeckt.
Die ersten Takte der Einleitung zu dem Song »Saturday Night’s Alright for Fighting« erklangen. Dann begann John zu singen.
Truitt verließ die Bühne und ging auf den MI5-Agenten zu.
»Er ist auf einem Motorrad unterwegs hierher«, sagte der Agent.
»Dann mische ich mich mal lieber unters Volk«, sagte Truitt.
Die Ural raste an der Nelson-Säule vorbei, während Cabrillo dem Gespann auf der Vincent Black Shadow dicht auf den Fersen war. Cabrillo wollte seinen Mantel öffnen, um an sein Schulterhalfter zu kommen, doch er konnte keine Hand vom Lenker nehmen, um nach der Waffe zu greifen. Stattdessen gab er Vollgas und überholte die Ural, während sie Charing Cross passierten. Huxley und Jones rannten hinaus auf die Fahrbahn und versuchten, einen sicheren Schuss anzubringen, während die Motorräder vorbeijagten. Doch Cabrillo war zu nahe an den Jemeniten herangekommen, und es waren einfach zu viele Menschen auf der Straße.
Auf der Kreuzung Strand und Cockspur Street lenkte Cabrillo seine Maschine dicht an die Ural heran und trat nach Amad. Der Jemenit machte einen heftigen Schlenker, behielt aber die Gewalt über sein Gespann.
»Sie fahren die Mall hinunter«, gab Jones per Funk durch.
Kasim und Ross rannten den Queenswalk in Richtung Konzertplatz hinunter.
Murphy ließ sich durchaus von einer allgemeinen Aufregung anstecken, aber mit einem Präzisionsgewehr in der Hand war er stets die Ruhe selbst. Franklin Lincoln spielte den Richtschützen für ihn und suchte die Parks vor ihnen ab. »Der einzig mögliche Schuss durch die Bäume ergibt sich etwa am Queen Victoria Memorial«, sagte Lincoln.
»Der Verkehr um das Denkmal fließt im Uhrzeigersinn, nicht wahr?«, fragte Murphy.
»Richtig«, bestätigte Lincoln.
»Dann knipse ich den Bastard ab, wenn er bremst, um in den Kreisverkehr einzubiegen — wie damals bei JFK«, sagte Murphy.
»Ich hab sie«, meldete Lincoln, als sein Visier die Motorräder erfasste.
Adams flog über den Old Admirality Buildings eine Linkskurve und folgte den Motorrädern die Mall hinunter.
»Kopf und Schultern«, sagte King in sein Helmmikrofon.
»Meinst du das Shampoo?«, fragte Adams.
»Nein«, erwiderte King, »dort werde ich den Mistkerl erwischen.«
Er blickte durch das Zielfernrohr und regulierte seine Atmung. Der kalte Wind, der durch die offene Helikoptertür hereindrang, ließ seine Augen tränen, aber King bemerkte es so gut wie gar nicht.
Cabrillo orientierte sich. Er erblickte eine Reihe von Imbissbuden, die den Kreisverkehr säumten, in dessen Zentrum das Queen Victoria Memorial stand. Sie näherten sich dem Konzertgelände. Er verringerte den Abstand zwischen sich und dem Jemeniten und bereitete sich darauf vor, auf die Ural umzusteigen.
»Vier, drei, zwei, eins«, zählte Lincoln.
Murphy schoss zur gleichen Zeit, als King aus dem Helikopter eine kurze Salve abfeuerte. Amad hatte den Kreisverkehr fast erreicht, als Blut aus seinem Kopf, seiner Brust und seinen Schultern spritzte. Nur eine Sekunde später war er bereits tot — fast genau im gleichen Augenblick, als Cabrillo von der Vincent auf die Ural umstieg. Seine Hände fingen bereits eine Leiche auf.
Die Vincent prallte in einem dichten Funkenregen auf den Asphalt und rutschte einen ganzes Stück, ehe sie liegen blieb. Cabrillo stieß Amad vom Motorradsitz. Er rollte und hüpfte wie ein Crashtest-Dummy über den Asphalt. Cabrillo drückte die Kupplung, nahm den Gang heraus und bremste. Das Motorrad mit dem Beiwagen kam nur wenige Schritte vor der ersten Imbissbude zum Stehen.
Cabrillo warf sofort einen Blick auf das Display des Zeitzünders. Der Countdown war gerade erst bei zwei Minuten angelangt. Er konnte nur hoffen, dass es sich um eine reguläre Zeitangabe handelte und nicht um ein metrisches Zählwerk.
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