Rita saß neben dem Techniker an einer Schneidemaschine und betrachtete Minhs Aufnahmen auf einem Monitor. Daß es ausgezeichnete Bilder waren, überraschte sie nicht.
Bei normalen Einsätzen, bei denen auch ein Cutter zum Team gehörte, wählten Cutter und Produzent gemeinsam die besten Bildsequenzen aus und legten dann die verschiedenen Komponenten über die Tonspur mit dem Korrespondentenkommentar, so daß ein fertig redigierter und geschnittener Bericht entstand. Doch das dauerte fünfundvierzig Minuten, manchmal sogar länger und war im Augenblick also unmöglich. Rita suchte deshalb schnell entschlossen die dramatischsten Szenen aus und ließ sie, so wie sie waren, vom Techniker überspielen - »als Schnellschuß«, wie es im Fernsehjargon heißt.
Partridge saß auf dem Metalltreppchen vor dem Übertragungswagen und gab seinem Text den letzten Schliff. Er sprach sich nur kurz mit Minh und dem Tontechniker ab und nahm dann seinen Kommentar auf.
Unter Berücksichtigung der Einleitung des Nachrichtensprechers, die in New York geschrieben und die wichtigsten Fakten des Unglücks bringen würde, begann Partridge:
»Die Piloten eines längst vergangenen Krieges nannten es Landung mit einem Flügel und einem Gebet<. Es gab sogar ein Lied darüber... Was heute passiert ist, wird wohl kaum jemand in einem Lied verewigen.
Der Airbus der Muskegon Airlines war nur noch sechzig Meilen von Dallas-Fort Worth entfernt... beinahe voll besetzt... aus Chicago kommend... als es zur Kollision kam...«
Wie immer, wenn ein erfahrener Korrespondent für die Fernsehnachrichten textete, hatte auch Partridge »leicht von den Bildern weg« geschrieben. Es war eine sehr spezielle, schwer zu erlernende Kunstform, die einige Reporter nie ganz meisterten. Auch unter professionellen Schreibern erhielt dieses Talent nie die Anerkennung, die es eigentlich verdiente, weil die Texte immer nur als Begleitung zu Bildern geschrieben und selten für sich gelesen wurden.
Der Trick, wie Harry Partridge und einige andere wußten, lag darin, eben nicht die Bilder zu beschreiben. Der Zuschauer sah ja auf seinem Bildschirm, was passierte, und brauchte dazu keine Erklärung. Und doch durften die gesprochenen Worte nicht so weit von den Bildern entfernt ein, daß sie das Bewußtsein des Zuschauers sozusagen spalteten. Es war ein literarischer Balanceakt, und viel davon war Instinkt.
Und noch etwas wußten erfahrene Nachrichtenleute: Die besten Texte bestanden nicht aus ordentlichen, vollständigen Sätzen. Satzfragmente wirkten viel stärker. Die Fakten mußten knapp und präzise, Verben stark und lebendig sein, der Text mußte knistern. Und schließlich sollte der Korrespondent auch mit Sprechweise und Betonung Bedeutung vermitteln. Zugegeben, der oder die Betreffende mußte ein ausgezeichneter Reporter sein, aber darüber hinaus auch Schauspieler. Partridge war all das, doch an diesem Tag gab es ein Handicap: Er hatte die Bilder nicht gesehen, wie es normalerweise der Fall war. Doch wußte er auch so in etwa, wie sie aussehen würden.
Partridge schloß mit einer Absage, dem üblichen Schlußwort eines Korrespondentenberichts. Er war dabei vor dem Hintergrund der hektischen Aktivitäten am Airbus in Großaufnahme zu sehen und sprach direkt in die Kamera.
»In Kürze wird man Genaueres über diese Katastrophe erfahren... tragische Einzelheiten, die Zahl der Opfer und Verletzten. Doch eins kann man jetzt schon sagen: Die Kollisionsgefahr wird immer stärker... in den engen Luftkorridoren an unserem überfüllten Himmel... Harry Partridge, CBA News, Dallas-Fort Worth.«
Minh reichte Rita die Cassette mit dem Text in den Wagen. Da sie Partridge vertraute und ihn zu gut kannte, um wertvolle Zeit mit einer Überprüfung zu verschwenden, ließ sie den Bericht nach New York abgehen, ohne ihn sich vorher angesehen zu haben. Doch als sie dann Augenblicke später sah und hörte, was der Techniker übermittelte, staunte sie. Das Gespräch in der Abfertigungshalle eine halbe Stunde zuvor fiel ihr ein, und sie dachte: Hier sieht man mal, warum Partridge mit seinen vielen Talenten so viel mehr verdient als ein Reporter der New York Times.
Draußen war Partridge bereits mit einer weiteren Korrespondentenaufgabe beschäftigt - mit einem Radiobericht für CBA Radio News, den er, nach einem flüchtigen Blick auf seine Notizen, praktisch aus dem Stegreif sprach. Nach dem Ende der TV-Überspielung würde auch der via Satellit nach New York gehen.
3
Die Zentrale von CBA News war ein neutraler und unscheinbarer, achtstöckiger Backsteinbau an der East Side von Upper Manhattan. Einst als Möbelfabrik errichtet, waren von dem früheren Gebäude nur noch die Außenmauern in ursprünglichem Zustand; das Innere war von einer ganzen Reihe von Mietern vielfach umgebaut und umgestaltet worden. Das Ergebnis war ein Labyrinth von Gängen, in denen sich Besucher ohne Begleitung verliefen.
Trotz seines etwas tristen Aussehens beherbergte das Gebäude einen wahren Fürstenschatz an elektronischem Zaubergerät, einen Großteil davon im Reich der Techniker oder den »Katakomben«, wie die zwei Kellergeschosse manchmal genannt wurden. Das Herzstück dieser Vielzahl von Abteilungen mit ihren unterschiedlichen Funktionen hatte einen sehr prosaischen Namen: der Einzollband-Raum.
Alle Berichte der CBA-Teams auf der ganzen Welt trafen, von Satelliten und manchmal auch terrestrisch übertragen, im Einzollband-Raum ein. Und von dort gingen die fertigen Nachrichten, über einen Sendekontrollraum und wieder über Satellit, hinaus zu den Zuschauern.
Charakteristisch für den Einzollband-Raum waren enormer Streß, überlastete Nerven, Spannungen, der Zwang zu schnellen Entscheidungen und barsche Befehle, vor allem kurz vor und während der Sendezeiten der National Evening News.
In solchen Augenblicken mochte die Szene für einen uneingeweihten Beobachter wie ein Irrenhaus, ein technologischer Alptraum wirken. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch das herrschende Halbdunkel, das nötig war, um den Wirrwarr von Fernsehmonitoren beobachten zu können.
Aber in Wirklichkeit wurde die ganze Operation reibungslos, schnell und mit viel Geschick bewältigt. Fehler konnten katastrophale Folgen haben. Sie kamen nur selten vor.
Ein halbes Dutzend riesiger Zweispulengeräte, jedes in eine Konsole eingebaut und mit einem Kontrollmonitor darüber, dominierte die Szene. Die Geräte arbeiteten mit Magnetbändern von einem Zoll Breite, dem qualitativ hochwertigsten und verläßlichsten Material. An jeder Konsole saß ein geschickter Cutter, der die hereinkommenden Bänder schnell und den Anweisungen entsprechend bearbeitete und wieder hinausschickte. Die Cutter, älter als die meisten anderen in dem Gebäude, bildeten eine bunte Truppe, deren Markenzeichen es war, sich besonders schäbig zu kleiden und ausgelassen zu benehmen. Ein Kommentator hatte sie deshalb einmal die »Kampfpiloten« des Fernsehens genannt.
An jedem Wochentag verließ ein Chefproduzent etwa eine Stunde vor Sendebeginn seinen Sessel am Hufeisen und stieg fünf Etagen tiefer, um im Einzollband-Raum mit seinen Cuttern das Kommando zu übernehmen. Während er dort wie ein Maestro mit fuchtelnden Armen und lauter Stimme das Geschehen dirigierte, sichtete er das hereinkommende Material, befahl, wenn nötig, weitere Schneidearbeiten und hielt gleichzeitig seine Kollegen am Hufeisen darüber auf dem laufenden, welche der erwarteten Berichte bereits im Haus waren und wie sie auf den ersten Blick wirkten.
Alles, so schien es, traf im Einzollband-Raum immer erst in allerletzter Sekunde ein. Es war eine allgemein akzeptierte Tradition, daß die Produzenten, Korrespondenten und Cutter vor Ort bis zum letztmöglichen Augenblick an ihren Berichten herumfeilten, so daß das meiste erst in der letzten halben Stunde vor Sendebeginn und einiges auch erst danach einging. Nicht selten kam es sogar vor, daß der erste Teil eines Berichts bereits von der einen Bandmaschine in die Sendung eingespeist wurde, während die zweite Hälfte erst auf die andere überspielt wurde. In solch kitzligen Situationen holten die schwitzenden, nervösen Männer das Letzte aus sich heraus.
Читать дальше