»Ich bin Captain Rider Sandman«, stellte er sich Corday erneut vor. »Der Innenminister hat mich gebeten, Ihren Fall zu überprüfen.«
»Warum?«, fragte Corday, der auf den Stapel Decken gesunken war und für diese Frage allen Mut zusammennehmen musste.
»Ihre Mutter hat Beziehungen«, antwortete Sandman kurz angebunden und immer noch wütend.
»Die Königin hat sich für mich verwendet?« Corday schaute hoffnungsvoll auf.
»Ihre Majestät hat um eine Bestätigung Ihrer Schuld gebeten«, sagte Sandman pedantisch.
»Aber ich bin unschuldig«, wandte Corday ein.
»Sie wurden zum Tode verurteilt«, sagte Sandman. »Ihre Schuld steht also außer Frage.« Er wusste, dass er unerträglich aufgeblasen klang, aber er wollte diese unappetitliche Begegnung hinter sich bringen und endlich zum Kricket gehen. Schneller dürfte er fünfzehn Guineen in seinem ganzen Leben noch nicht verdient haben, dachte er, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses verachtenswerte Geschöpf sich seiner Forderung nach einem Geständnis lange widersetzen könnte. Corday wirkte jämmerlich, weibisch und den Tränen nahe. Seine Kleidung war zwar unordentlich, aber modisch elegant: schwarze Hose, weiße Strümpfe, ein weißes Rüschenhemd und eine blaue Seidenweste, aber weder Krawatte noch Überrock. Sandman vermutete, dass die Kleider teurer waren als alles, was er selbst besaß. Dieser Umstand und Cordays ausdruckslose, nasale Sprechweise mit Akzent, die gesellschaftliche Ambitionen verriet, verstärkten seine Abneigung gegen den Jungen nur noch weiter. Ein wehleidiger Emporkömmling, lautete Sandmans instinktives Urteil; ein Junge, der kaum trocken hinter den Ohren war und schon die Manieren und Modetorheiten der höheren Schichten nachäffte.
»Ich habe es nicht getan!«, protestierte Corday noch einmal und brach in Tränen aus. Seine schmächtigen Schultern bebten, seine Stimme war weinerlich, und Tränen liefen ihm über die bleichen Wangen.
Sandman stand in der Zellentür. Sein Vorgänger hatte Gefangene offenbar mit Schlägen zu Geständnissen bewegt, ein Vorgehen, das Sandman nicht nachzuahmen gedachte, weil er es unehrenhaft und unzulässig fand. Daher musste er den elenden Jungen wohl oder übel überreden, die Wahrheit zu sagen. Aber zuerst sollte er aufhören zu weinen. »Warum nennen Sie sich Corday?«, fragte er in der Hoffnung, ihn abzulenken. »Ihre Mutter heißt doch Cruttwell?«
Corday schniefte. »Es gibt kein Gesetz, das es verbietet.«
»Habe ich das behauptet?«
»Ich bin Porträtmaler«, sagte Corday verdrossen, als müsse er sich selbst dieser Tatsache versichern, »und Kunden ziehen Maler mit französischen Namen vor. Cruttwell klingt nicht vornehm. Würden Sie sich von einem Charlie Cruttwell porträtieren lassen, wenn Sie einen Monsieur Charles Corday engagieren könnten?«
»Sie sind Maler?« Sandman konnte seine Verwunderung nicht verhehlen.
»Ja!« Corday schaute Sandman aus rot geweinten Augen streitlustig an, verfiel aber gleich wieder in sein Elend. »Ich bin bei Sir George Phillips in die Lehre gegangen.«
»Er ist überaus erfolgreich«, sagte Sandman boshaft, »obwohl er einen prosaischen englischen Namen trägt. Und Sir Thomas Lawrence klingt mir auch nicht gerade französisch.«
»Ich dachte, es würde helfen, meinen Namen zu ändern«, sagte Corday schmollend. »Spielt das eine Rolle?«
»Ihre Schuld spielt eine Rolle«, sagte Sandman streng. »Und wenn sonst nichts zählt, könnten Sie mit reinem Gewissen vor das Antlitz Ihres Schöpfers treten, indem Sie ein Geständnis ablegen.«
Corday starrte Sandman an, als sei sein Besucher verrückt. »Wissen Sie, wessen ich schuldig bin?«, fragte er schließlich. »Ich bin schuldig, eine Stellung über meinem Stand anzustreben. Ich bin schuldig, ein anständiger Maler zu sein. Ich bin schuldig, ein verdammt viel besserer Maler zu sein als der verfluchte Sir George Phillips, und ich bin schuldig, Gott, wie schuldig, weil ich dumm bin, aber die Countess of Avebury habe ich nicht getötet. Wirklich nicht!«
Sandman mochte den Jungen nicht, aber er lief Gefahr, sich von ihm überzeugen zu lassen, daher stählte er sich, indem er sich die Mahnung des Pförtners in Erinnerung rief. »Wie alt sind Sie?«, fragte er.
»Achtzehn«.
»Achtzehn«, wiederholte Sandman. »Gott wird sich deiner Jugend erbarmen. Wir alle machen Dummheiten, wenn wir jung sind, und du hast Furchtbares getan, aber Gott wird deine Seele wägen, es gibt immer noch Hoffnung. Du bist nicht zum Höllenfeuer verdammt, wenn du gestehst und Gott um Vergebung bittest.«
»Vergebung wofür?«, fragte Corday trotzig.
Sandman war so verdutzt, dass er gar nichts mehr sagte.
Mit roten Augen und bleichem Gesicht schaute Corday zu Sandman auf. »Sehen Sie mich doch an, sehe ich aus wie ein Mann, der die Kraft hat, eine Frau zu vergewaltigen und zu töten, selbst wenn ich es wollte? Sehe ich so aus?« Nein, das musste Sandman zumindest vor sich eingestehen, denn Corday war eine schwächliche, wenig beeindruckende Kreatur, dünn und schmächtig. Nun fing er wieder an zu weinen: »Sie sind alle gleich. Niemand hört mir zu! Ich bin allen gleichgültig! Solange nur jemand hängt, ist es allen gleichgültig.«
»Hören Sie auf zu heulen, um Himmels willen!«, schnaubte Sandman, rief sich aber sofort zur Ordnung, sich nicht gehen zu lassen. »Es tut mir Leid.«
Corday stutzte, hörte auf zu weinen und schaute Sandman stirnrunzelnd an. »Ich habe es nicht getan, ich habe es wirklich nicht getan.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Sandman und verachtete sich, weil ihm das Gespräch entglitten war.
»Ich war dabei, sie zu malen«, sagte Corday. »Der Earl of Avebury wollte ein Porträt seiner Frau und hatte Sir George damit beauftragt.«
»Er beauftragte Sir George, aber Sie malten es?« Sandman klang skeptisch. Schließlich war Corday erst achtzehn, während Sir George Phillips als einziger Rivale von Sir Thomas Lawrence gefeiert wurde.
Corday seufzte, als stelle Sandman sich absichtlich begriffsstutzig an. »Sir George trinkt«, sagte er wütend. »Er fängt zum Frühstück mit Rum und Sirup an und säuft bis zum Abend, weshalb seine Hände zittern. Er trinkt also, und ich male.«
Sandman wich auf den Korridor zurück, um dem Gestank des ungeleerten Nachttopfs in der Zelle zu entgehen. Er fragte sich, ob er vielleicht naiv sei, weil er Corday seltsam glaubwürdig fand. »Sie malten in Sir Georges Atelier?« Er fragte nicht aus Interesse, sondern um das Schweigen zu brechen.
»Nein«, antwortete Corday. »Ihr Mann wollte ihr Schlafzimmer als Kulisse für das Porträt, also habe ich da gemalt. Wissen Sie, wie viel Mühe das macht? Sie müssen eine Staffelei, Leinwand, Kreide, Ölfarben, Lappen, Stifte, Abdecktücher, Mischtiegel und noch mehr Lappen mitnehmen. Aber der Earl of Avebury bezahlte schließlich dafür.«
»Wie viel?«
»Was immer Sir George herausschlagen konnte. Achthundert Guineen? Neunhundert? Mir hat er hundert angeboten.« Corday klang verbittert über das Honorar, auch wenn es Sandman wie ein Vermögen erschien.
»Ist es üblich, ein Porträt im Schlafzimmer einer Dame zu malen?« Sandman war ehrlich erstaunt. Er konnte sich vorstellen, dass eine Frau sich in einem Salon oder unter einem Baum in einem großen, sonnigen Garten malen ließ, aber das Schlafzimmer erschien ihm als überaus verruchte Wahl.
»Es sollte ein Boudoirporträt werden«, sagte Corday, und obwohl Sandman diesen Begriff noch nie gehört hatte, konnte er sich vorstellen, was er bedeutete. »Sie sind sehr in Mode, weil heutzutage alle Frauen aussehen wollen wie Canovas Pauline Bonaparte.«
Sandman runzelte die Stirn. »Sie verwirren mich.«
Angesichts solcher Unwissenheit hob Corday flehend den Blick gen Himmel. »Der Bildhauer Canova hat ein berühmtes Bild von der Schwester des Kaisers gemalt, und jede Schönheit in Europa möchte nun in der gleichen Pose dargestellt werden. Die Frau liegt auf einer Chaiselongue, in der linken Hand einen Apfel, den Kopf auf die rechte gestützt.« Corday demonstrierte die Pose, was Sandman peinlich fand. »Entscheidend ist, dass die Frau von der Taille aufwärts nackt ist. Und von der Taille abwärts weitgehend ebenfalls.«
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