Die Stufen waren schmal und glitschig, aber er war schnell oben. Als er auf den Vorsprung trat, sah er eine Gestalt auf sich zukommen.
»Dad, bist du es?«, flüsterte er in sein Funkgerät.
»Ich vollführe mit dem Arm einen Kreis«, sagte Yeats.
Conrad konnte ihn wegen des Rauschens des Wassers kaum hören. Aber er sah, wie die Gestalt auf der anderen Seite den Arm bewegte. »Okay«, sagte er.
»An die Arbeit«, sagte Yeats. »Vergiss nicht: Egal, was passiert, du hältst dich an unseren Plan und an die Verabredung in sechs Minuten.« Dann verschwand er im Dunkeln.
Conrad ging an den Rand der Plattform zwischen den Kaskaden und nahm dort eine günstige Stellung ein. Der Boden unter ihm bebte von dem gewaltigen Donnern der Wasserfälle, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Er blickte um sich und fand sofort, was er suchte. In der frühen Dämmerung der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche zog im Osten das Sternbild Wassermann auf. Es war perfekt auf das Bauwerk, auf dem er stand, ausgerichtet. Der Wassermann auf der Erde starrte den Wassermann im Himmel an. Und die aufgehende Sonne – die Leuchtende – zeigte die richtige Stelle.
Sofort zog er das elektronische Vermessungsgerät heraus, das Yeats ihm eingepackt hatte, und fing mit seinen Berechnungen an. Wenn sie stimmten, lag das Heiligtum der Ursonne 90 Grad südlich. Das hieß, es befand sich direkt unter dem Fluss in etwa 300 Meter Tiefe. Er schwenkte mit seiner Digitalkamera über den Horizont, um den Punkt zu markieren.
Conrad blickte wieder zu den Gestirnen. Die erste Morgenröte schimmerte. Bald würde der Wassermann aufgegangen sein; ein Wassermann am Firmament mit seinem Gefäß am Horizont. Gleichzeitig läge die Sonne – und zwar genau auf dem Frühlingspunkt – irgendwo unter dem letzten Stern, der aus dem Gefäß floss.
Conrad blickte auf seine Uhr. Fast fünf Uhr; er musste sich beeilen. Als er sich umdrehte, sah er einen Ägypter aus dem Tempel herauskommen und auf ihn zugehen.
»Jasir, warum bist du nicht auf deinem Posten?«, brüllte Jamil.
»Und warum bist du nicht auf deinem?«, erwiderte Conrad barsch in passablem Arabisch. Sein Arabisch war ein Mischmasch aus allen möglichen Wörtern, die er im Laufe der Jahre aufgeschnappt hatte.
Jamil schien sich zu beruhigen. »Ich mache gerade Pause«, sagte er. Zumindest verstand Conrad es so. »Diese Nonnen sind nicht kleinzukriegen. Als wären sie zum Martyrium geboren. Bei der muss ich aufpassen, wo ich sie verletze. Damit ich mich noch an sie ranmachen kann, wenn sie tot ist.«
Conrad bemerkte etwas in Jamils Hand. Ein Büschel Haare. Serenas Haare. Am liebsten hätte Conrad ihn auf der Stelle umgebracht und Serena gerettet. Aber ihm war klar, dass Jamil nicht sein Gesicht sehen durfte. Deshalb lachte er einfach über Jamils widerlichen Witz, drehte sich um und blickte über die Wasserfälle. Er merkte, dass jemand ihm einen Gewehrlauf in den Rücken drückte.
»Sie haben also das Heiligtum gefunden, Doktor Yeats?«
Er drehte sich um und blickte in Jamils glühende Augen.
Jamil grinste triumphierend. »Jetzt brauchen wir die Nonne ja nicht mehr«, sagte Jamil. »Also, wo ist es?«
»Da drüben.« Conrad ging scheinbar auf die Frage ein. »Sehen Sie den Wassermann?«
Er deutete mit der linken Hand, und Jamil folgte ihr automatisch. Sofort stieß Conrad dem Ägypter mit der Rechten das Messer, das er dem Russen in der P4 abgenommen und im Ärmel bereitgehalten hatte, ins Genick. Die Klinge hinterließ eine dünne Blutspur.
Jamil wollte schreien, brachte aber nur noch ein Gurgeln heraus, bevor er nach hinten über den Rand taumelte und in der Dunkelheit verschwand. Conrad beobachtete, wie Jamil zweimal von der Wand abprallte und dann in den Fluss stürzte.
Conrad machte sich auf den Weg zur oberen Plattform beziehungsweise zum Landeplatz, wo er Yeats treffen sollte. Auf einmal kam ein weiterer Ägypter aus dem Tempel und ging auf ihn zu. Conrad erstarrte. Er erkannte Oberst Zawas am Gang. Ihm war klar, dass es diesmal kein Entrinnen gab.
Tagesanbruch 30 minus 1 Stunde
Ein paar Minuten nach fünf trat Zawas aus der Kammer, um draußen zu rauchen und sich die Zeichnung vom Heiligtum der Ursonne, die er Serena weggenommen hatte, noch einmal in Ruhe anzuschauen. Jetzt, da er wusste, wonach er suchen musste, ging es nur noch darum, wo er suchen sollte.
Unter dem Sternenhimmel nuckelte er an der noch nicht angezündeten Havanna und stellte fest, dass es allmählich hell wurde. Bald würde die Sonne aufgehen, und die Chance, das Heiligtum der Ursonne zu finden, wäre vertan. Auf einmal sah er einen seiner Wachleute – wahrscheinlich Jasir – am Wasserfall stehen. Als er im dämmerigen Licht auf ihn zuging, nahm Jasir eine angespannte Haltung ein.
»Stehen Sie bequem, Leutnant«, sagte Zawas, worauf sich Jasir rührte. »So einen Sonnenaufgang gibt's nicht alle Tage, was?«
Jasir murmelte etwas Zustimmendes. Zawas stellte fest, dass bei fast allen seinen Leuten Anzeichen von Erschöpfung und Stress zu beobachten waren.
Er seufzte und klopfte seine Hosentaschen nach Streichhölzern ab, da streckte Jasir ihm ein altmodisches Zippo-Feuerzeug hin. Zawas hielt die Zigarrenspitze in die Flamme und inhalierte. Welch ein Genuss!
»Bleiben Sie auf dem Posten«, sagte Zawas und ging zur Kommandozentrale zurück.
Auf halbem Weg kam ihm an der handgerollten Zigarre irgendetwas bekannt vor. Nein, nicht die Zigarre, sondern das silberne Zippo-Feuerzeug weckte eine Erinnerung in ihm. Genau so eines hatte sein Großvater ihm einmal gegeben. Allerdings wunderte es ihn, dass Jasir oder sonst jemand seiner Leute solch ein vorsintflutliches Modell besitzen sollte. Er wollte Jasir fragen, wo er es herhatte.
Als Zawas sich umdrehte, war Jasir jedoch nicht mehr auf seinem Posten. Der Oberst fluchte leise und ging auf den Vorsprung zurück. Er blickte über den Rand die Wasserfälle hinab, konnte aber nichts erkennen. Als ob Jasir sich in Luft aufgelöst hatte. War er womöglich hinuntergestürzt? So blöd konnte Jasir doch nicht sein.
Zawas zog sein Funkgerät aus dem Gürtel. »Jamil!«, brüllte er hinein. »Trommle deine Leute zusammen. Conrad Yeats ist hier aufgetaucht!«
Aber Jamil antwortete nicht.
»Jamil«, rief Zawas noch einmal, da hörte er auf einmal, wie hinter ihm etwas explodierte.
Es regnete Steinbrocken, und Zawas sah, wie es oben auf der Stufenpyramide grell aufleuchtete. Plötzlich kam der brennende Rumpf eines Eurocopters die Ostfassade herabgestürzt. Stahl schrammte mit ohrenbetäubendem Krach gegen den Stein. Der Hubschrauber kam auf der Plattform auf und explodierte in einem Feuerball. Zawas duckte sich.
»Das Zepter!«, fluchte er.
Er rannte in die Kammer, wo der Obelisk bewacht wurde. Die zwei Wachposten lagen jedoch tot auf dem Boden. Das Zepter war verschwunden.
***
Conrad stürzte mit einer derartigen Wucht in das Wasser unten am Tempel des Wassermanns, dass er glaubte, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Kurz darauf kam er wieder an die Oberfläche, rang nach Luft und stellte fest, dass sein Aufprall dank dem tosenden Wasserfall von den Wachposten unbemerkt geblieben war.
Er schwamm im Dunkeln zum Schlauchboot hinüber, machte es los, kletterte an Bord und startete den Motor. Bis die Wachen merkten, was passiert war und zu schießen anfingen, war er schon hundert Meter entfernt und raste den Kanal entlang.
Er blickte über die Schulter und sah die Explosionen oben auf dem Tempel des Wassermanns. Er sah auch den großen Schatten, der schnell auf ihn herunterkam – einer von Zawas' Hubschraubern. Ohne Licht flog er praktisch im Tiefflug über ihm und verdeckte die Sterne. Conrad warf den höchsten Gang ein, konnte ihn aber nicht abschütteln.
Der Hubschrauber flog über ihn hinweg und landete ein paar hundert Meter weiter auf der Randbefestigung des Kanals. Als Conrad näher kam, sah er, wie ihn jemand zu sich winkte.
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