»In meinem Beruf bin ich erstklassig«, antwortete er mit so unüberhörbarem Stolz, daß Laura wußte, daß er die Wahrheit sagte. »Meine Kunden schwören auf mich, und ich habe selbst ein hübsches kleines Portefeuille, das seit drei Jahren überdurchschnittliche Erträge abwirft. Als Börsenanalytiker, Makler und Vermögensberater gebe ich dem Wind keine Chance, mir den Schirm umzudrehen.«
2
Am Nachmittag des Tages, an dem Stefan die Sprengladungen im Keller des Instituts angebracht hatte, unternahm er die nach seiner Planung vorletzte Zeitreise. Es war ein inoffizieller Ausflug, Ziel der 10. Januar 1988. Die Reise stand nicht auf dem Dienstplan und erfolgte ohne Wissen seiner Kollegen.
Bei seiner Ankunft schneite es in den San Bernardino Mountains leicht, aber er war mit festen Stiefeln, Lederhandschuhen und seiner Seemannsjacke für dieses Wetter gut gerüstet. Er suchte unter dichten Tannen Schutz, um dort das Ende des jede Zeitreise begleitenden heftigen Gewitters abzuwarten.
Er schaute im flackernden Lichtschein der Blitze auf seine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, wie spät es schon war. Um Laura zu erreichen, noch bevor sie den Tod fand, blieben ihm weniger als 40 Minuten. Falls er versagte und zu spät kam, würde es keine zweite Chance für ihn geben.
Noch während die letzten grellweißen Blitze die geschlossene Wolkendecke zerrissen und der Donner von den Bergen widerhallte, kam Stefan unter den Bäumen hervor und hastete ein Schneefeld hinunter. Der knietiefe Schnee lag unter dünnem Harsch, der bei jedem Schritt einbrach, so daß er wie durch einen Sumpf watend nur mühsam vorankam. Er fiel zweimal hin, Schnee drang von oben in seine Stiefel, und der Sturmwind zerrte an ihm wie ein lebendes Wesen, das ihn vernichten wollte. Bis er das Schneefeld hinter sich hatte und über dessen Rand auf die zweispurige Staatsstraße kletterte, die in einer Richtung nach Arrowhead, in der anderen nach Big Bear führte, war er über und über mit verkrustetem Schnee bedeckt, hatte eiskalte Füße und über fünf Minuten Zeit verloren.
Die vor kurzem geräumte Straße war schneefrei bis auf dünne Schneeschleier, die sich, wechselnden Luftströmungen folgend, über den Asphalt schlängelten. Die Intensität des Sturms hatte zugenommen. Die Schneeflocken waren jetzt viel kleiner als bei Stefans Ankunft und fielen doppelt so schnell. Die Straße würde bald wieder schneeglatt sein.
Stefan sah einen Wegweiser - LAKE ARROWHEAD 1 MILE - und stellte entsetzt fest, um wieviel weiter als geplant er von Laura entfernt war.
Er blickte mit zusammengekniffenen Augen gegen den Sturmwind nach Norden und entdeckte im trübseligen Grau dieses Winternachmittags einen warmen Lichtschimmer: ein ebenerdiges Gebäude in etwa 300 Meter Entfernung rechts von ihm, vor dem Autos parkten. Er marschierte sofort in diese Richtung und hielt dabei den Kopf gesenkt, um sein Gesicht vor dem schneidend kalten Wind zu schützen.
Er mußte sich ein Auto beschaffen. Laura hatte keine halbe Stunde mehr zu leben, und es waren fast 20 Kilometer bis hin zu ihr.
3
Fünf Monate nach ihrem ersten Rendezvous und eineinhalb Monate nach Abschluß ihres Studiums an der UCI heiratete Laura Danny Packard am Samstag, dem 16. Juli 1977, vor einem Richter in dessen Amtsräumen. Die einzigen Gäste, die zugleich als Trauzeugen fungierten, waren Dannys Vater Sam und Thelma Ackerson.
Sam Packard war ein etwa 1,75 Meter großer, gutaussehender silberhaariger Mann, der im Vergleich zu seinem Sohn geradezu zerbrechlich wirkte. Während der kurzen Zeremonie mußte er immer wieder weinen, und Danny drehte sich mehrmals nach ihm um und fragte: »Alles in Ordnung, Dad?« Sam nickte jedesmal, putzte sich die Nase und forderte sie zum Weitermachen auf. Aber im nächsten Augenblick weinte er schon wieder. Danny erkundigte sich wieder, ob alles in Ordnung sei, und Sam putzte sich geräuschvoll die Nase, als imitiere er den Paarungsruf von Graugänsen. »Junger Mann«, sagte der Richter schließlich, »das sind bloß Freudentränen, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir weitermachen könnten -ich habe nämlich noch drei Paare zu trauen.«
Selbst wenn der Vater des Bräutigams nicht vor Ergriffenheit in Tränen ausgebrochen, der Bräutigam nicht ein Riese mit wachsweichem Herzen gewesen wäre, hätte Thelmas Anwesenheit die Hochzeitsparty zum denkwürdigen Ereignis gemacht. Ihr Haar war seltsam zottig geschnitten und vorn zu einem purpurrot gefärbten Schöpf hochgekämmt. Mitten im Sommer - und ausgerechnet zu einer Hochzeit - trug sie rote Lacklederpumps, eine hautenge schwarze Stretchhose, eine -absichtlich - mit aller Sorgfalt zerrissene schwarze Bluse und eine gewöhnliche Stahlkette als Gürtel. Übertrieben starkes purpurrotes Augen-Make-up, blutroter Lippenstift und ein Ohrring, der an einen Angelköder erinnerte, vervollständigten die Aufmachung.
Während Danny sich nach der Trauung mit seinem Vater unterhielt, hockte Thelma in einer Ecke der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes mit Laura zusammen und erläuterte ihr diesen Aufzug. »Das ist der Punkerlook - in England der letzte Schrei. Hier bei uns trägt das noch kein Mensch. Übrigens muß er sich auch in England erst durchsetzen, aber in ein paar Jahren laufen alle so rum. Für meine Auftritte ist er große Klasse. Ich sehe so verrückt aus, daß die Leute schon lachen, wenn ich auf die Bühne komme. Außerdem ist er gut für mich. Ich meine, wenn wir mal ehrlich sind, Shane, hab’ ich mich im Alter nicht gerade vorteilhaft entwickelt. Wäre Häßlichkeit ‘ne Krankheit, gegen die ein organisierter Feldzug geführt werden müßte, dann könnten sie mein Photo auf ihre Plakate tun. Aber der Punkerlook hat zwei große Vorteile: Man kann sich mit Frisur und Make-up so tarnen, daß keiner merkt, wie hausbak-ken man ist. Außerdem soll man ohnehin verrückt aussehen. Jesus, Shane, dein Danny ist wirklich riesig. Du hast mir am Telefon schon viel über ihn erzählt, aber so groß hab’ ich ihn mir nicht vorgestellt. Den brauchte man nur in einen Godzilla-Anzug zu stecken, auf New York loszulassen und das Ergebnis zu filmen und könnte sich teure Atelierbauten sparen. Und du liebst ihn, was?«
»Ich liebe ihn sehr«, antwortete Laura. »Er ist ebenso sanft, wie er groß ist - vielleicht nach all den Grausamkeiten, die er in Vietnam erlebt hat, oder vielleicht auch, weil er schon immer sanft gewesen ist. Er ist süß, Thelma, er ist intelligent und rücksichtsvoll, und er hält mich für eine der beste Schriftstellerinnen, die er je gelesen hat.«
»Aber als er angefangen hat, dir Kröten zu schenken, hast du ihn für ‘nen Psychopathen gehalten!«
»Eine kleine Fehleinschätzung.«
Zwei uniformierte Polizisten führten einen bärtigen jungen Mann in Handschellen durch die Eingangshalle zu einem der Gerichtssäle. Der Häftling musterte Thelma im Vorbeigehen prüfend und sagte dann laut: »He, Mama, wie wär’s mit uns?«
»Ah, der Ackerson-Charme«, flüsterte Thelma ihrer Freundin zu. »Du kriegst eine Mischung aus griechischem Gott, Teddybären und Bennett Cerf, und ich kriege eindeutige Anträge aus der Gosse. Aber wenn ich’s mir recht überlege, hab’ ich früher nicht mal die gekriegt, was darauf schließen läßt, daß meine Zeit vielleicht erst kommt.«
»Du unterschätzt dich, Thelma. Das hast du schon immer getan. Irgendwann erkennt ein ganz bestimmter Mann, was für ein Schatz du bist, und ...«
»Charles Manson - wenn er auf Bewährung entlassen wird.«
»Nein! Irgendwann wirst du so glücklich wie ich. Das weiß ich genau! Schicksal, Thelma.«
»Großer Gott, Shane, aus dir ist eine hoffnungslose Optimistin geworden! Was ist mit den Blitzen? Mit all den tiefschürfenden Gesprächen auf dem Fußboden unseres Zimmers in Caswell? Hast du die vergessen? Damals sind wir uns darüber einig gewesen, daß das Leben nichts als eine absurde Komödie ist, die gelegentlich von tragischen Blitzschlägen unterbrochen wird, um die Story besser zu gewichten und die komischen Momente deutlicher hervortreten zu lassen.«
Читать дальше