Laura bemühte sich monatelang verzweifelt, Thelmas Verfall aufzuhalten, ins Gegenteil zu verwandeln. Ihre Freundin wurde nachts von Alpträumen heimgesucht und quälte sich tagsüber mit Selbstvorwürfen. Die Zeit wirkte allmählich heilend, obwohl ihre Wunden sich niemals ganz schlossen. Thelmas Sinn für Humor kehrte langsam zurück, ihr Witz war wieder so ätzend wie früher, aber eine neue Art von Melancholie ergriff von ihr Besitz.
Die beiden teilten sich fünf Jahre lang ein Zimmer in Caswell Hall, bis sie aus staatlicher Vormundschaft entlassen wurden, um in Zukunft für ihr Leben ausschließlich selbst verantwortlich zu sein. In diesen Jahren hatten sie viel Spaß zusammen, das Leben war wieder schön, wenn es auch nie mehr so wurde, wie es vor dem Brand gewesen war.
11
Beherrschendes Objekt im Hauptlabor war das Tor, durch das man andere Zeitalter betreten konnte. Es bestand aus einem riesigen, trommelförmigen Zylinder von vier Meter Länge und zweieinhalb Meter Durchmesser, dessen blanke Edelstahlhülle mit polierten Kupferplatten ausgekleidet war. Der Zylinder ruhte auf Kupferblöcken einen halben Meter über dem Betonboden des Labors. Armdicke Elektrokabel führten zu ihm, und starke elektrische Felder ließen die Luft in seinem Inneren wie Wasser schimmern.
Kokoschka kehrte durch die Zeit ins Tor zurück und materialisierte sich im riesigen Zylinder. Er hatte an diesem Tag mehrere Zeitreisen unternommen, Stefan an verschiedenen Orten beschattet und endlich in Erfahrung gebracht, weshalb der Verräter so versessen darauf war, in Laura Shanes Leben einzugreifen. Jetzt trat er rasch aus dem Tor, vor dem ihn zwei Wissenschaftler und drei seiner eigenen Leute erwarteten.
»Das Mädchen hat nichts mit den Hochverratsplänen des Hurensohns, nichts mit seinen Versuchen zu tun, das Zeitreiseprojekt zu sabotieren«, stellte Kokoschka fest. »Sein Interesse an ihr ist persönlicher Natur - ein rein privates Unternehmen.«
»Nun wissen wir also, was er alles getan und weshalb er’s getan hat«, sagte einer der Wissenschaftler, »und Sie können ihn liquidieren.«
»Richtig«, bestätigte Kokoschka und trat ans Hauptprogrammierpult. »Nachdem wir jetzt alle Geheimnisse des Verräters aufgedeckt haben, können wir ihn liquidieren.«
Während Kokoschka am Programmierpult saß, um die Koordinaten eines anderen Raum-Zeit-Kontinuums einzugeben, in dem er dem Verräter auflauern konnte, beschloß er, auch Laura umzubringen. Das war keine schwere Aufgabe, die er allein erledigen konnte, weil er das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben würde; er arbeitete ohnehin am liebsten allein, um das Vergnügen nicht mit anderen teilen zu müssen. Laura Shane stellte keine Gefahr für die Staatsführung und deren Pläne zur Umgestaltung der Zukunft der Welt dar, aber er würde zuerst sie umbringen, vor Stefans Augen, damit dem Verräter das Herz brach, bevor er es mit einer Kugel zum Stillstand brachte. Außerdem mordete Kokoschka gern.
1
Am 12. Januar 1977, ihrem 22. Geburtstag, bekam Laura Shane mit der Post eine Kröte geschickt. Das Päckchen trug keinen Absender und enthielt kein Begleitschreiben. Als Laura die Geschenkpackung im Wohnzimmer ihres Appartements am Schreibtisch unter dem Fenster öffnete, ließ das helle Sonnenlicht des ungewöhnlich warmen Wintertages die hübsche kleine Keramikfigur aufleuchten. Die gut fünf Zentimeter große Kröte mit Stöckchen und Zylinder stand auf einem Keramiksockel, der ein Seerosenblatt darstellte.
Zwei Wochen zuvor hatte das Literaturmagazin ihrer Universität Lauras »Krötengeschichte« veröffentlicht - die Kurzgeschichte von einem Mädchen, dessen Vater phantasievolle Fabeln über einen erfundenen Sir Keith Kröterich aus England erzählte. Obwohl nur sie den wahren Hintergrund dieser Story kannte, mußte irgend jemand deren Wichtigkeit für sie intuitiv erfaßt haben, denn die grinsende Kröte mit dem Zylinder war außergewöhnlich gut verpackt. Sie war sorgfältig in Baumwoll-flies gehüllt, das mit einem roten Geschenkband verschnürt war. Darüberhinaus war sie in Kosmetiktücher gewickelt und in eine weiße Schachtel gelegt worden, die ihrerseits von zusammengeknüllten Zeitungen umgeben war und in einem festen Karton steckte. Nur um eine Keramikfigur zu schützen, die vielleicht fünf Dollar gekostet hatte, hätte sich niemand soviel Mühe gegeben - es sei denn, die sorgfältige Verpackung sollte darauf hinweisen, daß irgend jemand Lauras gefühlsmäßige Bindung zu ihrer »Krötengeschichte« zu würdigen wußte.
Um sich die Miete leisten zu können, teilte sie sich ihr Appartement in Irvine mit Meg Falcone und Julie Ishimina, zwei ihrer Kommilitoninnen im vorletzten Studienjahr, und dachte zunächst, eine von ihnen habe ihr die Kröte geschickt. Das war jedoch wenig wahrscheinlich, denn Laura war nicht eng mit ihnen befreundet. Die beiden waren mit ihrem Studium beschäftigt und hatten eigene Interessen; außerdem wohnten sie erst seit September mit Laura zusammen. Sie behaupteten, nichts von der Kröte zu wissen, und ihre Aussagen wirkten glaubwürdig.
Laura fragte sich, ob Professor Matlin, der die Redaktion des UCI-Literaturmagazins beriet, ihr die Keramikfigur geschickt haben könnte. Seit sie im zweiten Studienjahr an Matlins Seminar für kreatives Schreiben teilgenommen hatte, ermutigte er sie, ihre Begabung zu nutzen und ihren Stil zu verbessern. Da die »Krötengeschichte« ihm besonders gut gefallen hatte, konnte er ihr die Kröte als Ausdruck seiner Anerkennung geschickt haben. Aber weshalb ohne Absender? Ohne ein paar freundliche Zeilen? Und wozu die Geheimnistuerei? Nein, das war nicht Harry Matlins Art.
An der Universität hatte Laura einige Studienkollegen und -kolleginnen, aber daraus hatten sich aus Zeitmangel keine richtigen Freundschaften entwickelt. Das Studium, ihr Nebenjob und das Schreiben nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch, sofern sie nicht aß oder schlief.
Ihr fiel niemand ein, der sich ihretwegen die Mühe gemacht hätte, die Kröte zu kaufen, einzupacken und anonym abzuschicken.
Ein Rätsel.
Am folgenden Tag hatte Laura von acht bis 14 Uhr Vorlesungen. Gegen 15.45 Uhr kam sie zu ihrem neun Jahre alten Chevy auf dem Parkplatz vor dem Hörsaalgebäude zurück, sperrte die Tür auf, glitt hinters Lenkrad - und sah zu ihrer Verblüffung eine weitere Kröte auf der Instrumentenabdeckung liegen.
Die smaragdgrüne Keramikfigur war fünf Zentimeter hoch und zehn Zentimeter lang. Die Kröte lag auf der Seite, stützte den Kopf in eine Hand und lächelte versonnen.
Laura wußte bestimmt, daß sie den Wagen versperrt hatte, und er war auch versperrt gewesen, als sie vorhin zurückgekommen war. Der geheimnisvolle Krötenverschenker hatte sich offenbar alle Mühe gegeben und die Autotür mit einem Dietrich oder Drahthaken geöffnet, um die Kröte auf so dramatische Art zurücklassen zu können.
Zu Hause erhielt die liegende Kröte einen Platz auf ihrem Nachttisch, auf dem schon die Figur mit Stöckchen und Zylinder stand. Laura verbrachte den Abend lesend im Bett. Von Zeit zu Zeit wanderte ihr Blick zu den Kröten hinüber.
Als sie am nächsten Morgen ihre Wohnung verließ, fand sie vor ihrer Tür eine kleine Schachtel. Sie enthielt eine weitere sorgfältig verpackte Kröte, diesmal aus Zinnguß, die mit einem Banjo auf einem Baumstamm saß.
Den Sommer über hatte Laura einen Ganztagsjob als Serviererin im »Hamburger Hamlet« in Costa Mesa, und während des Studienjahrs arbeitete sie dort drei Abende in der Woche. Das »Hamlet« war ein gutgehendes Hamburger-Restaurant, das zu vernünftigen Preisen gutes Essen in angenehmer Atmosphäre -Balkendecke, holzgetäfelte Wände, bequeme Stühle mit Armlehnen - bot, so daß die Gäste im allgemeinen zufriedener waren als in den Restaurants, in denen Laura früher bedient hatte.
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