Sie konnte sich nicht bewegen, konnte kaum atmen und hatte Mühe, bei Bewußtsein zu bleiben. Über den grausig an- und abschwellenden Ton ihres erstickten Schluchzens hinweg hörte sie eine Tür aufgehen. Dann kamen Schritte näher.
»Laura? Ich bin wieder da!« Das war Ninas Stimme, anfangs unbekümmert heiter, dann schrill vor Entsetzen. »Laura? Mein Gott, Laura!«
Laura versuchte, den Toten von sich fortzuschieben, aber sie konnte sich nur halb unter der Leiche hervorwälzen - gerade weit genug, um Nina an der Wohnzimmertür stehen zu sehen.
Nina war zunächst vor Entsetzen wie gelähmt. Sie starrte ins Cremeweiß, Pfirsichgelb und Meergrün ihres Wohnzimmers, das jetzt unregelmäßig verteilte Rotakzente aufwies. Dann fiel der Blick ihrer veilchenblauen Augen auf Laura, und sie erwachte mit einem Ruck aus ihrer Trance. »Laura, o mein Gott, Laura!« Sie trat zwei, drei Schritte auf sie zu, blieb plötzlich stehen und krümmte sich keuchend zusammen, als habe jemand ihr mit der Faust einen Schlag in den Magen versetzt. Sie wollte sich aufrichten. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Dann konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und brach lautlos zusammen.
Das durfte nicht sein! Das war nicht fair, verdammt noch mal!
Panik und ihre Liebe zu Nina verliehen Laura neue Kräfte. Sie wälzte sich unter Sheener hervor und kroch rasch zu ihrer Pflegemutter hinüber.
Nina lag schlaff und ohne Bewegung. Ihre schönen Augen standen blicklos offen.
Laura legte ihre blutverschmierte Hand an Ninas Hals und versuchte, ihren Puls zu erfühlen. Sie bildete sich ein, ihn gefunden zu haben. Schwach, unregelmäßig, aber spürbar.
Sie zerrte ein Kissen vom nächsten Sessel, bettete Ninas Kopf darauf und hastete in die Küche, wo die Notrufnummern von Polizei und Feuerwehr auf dem Wandtelefon standen. Mit bebender Stimme meldete sie Ninas Herzanfall und gab der Feuerwehr ihre Adresse an.
Als sie auflegte, wußte sie, daß alles wieder gut werden würde, denn sie hatte schon ihren Vater durch einen Herzanfall verloren, und es wäre einfach absurd gewesen, Nina auf gleiche Weise zu verlieren. Gewiß, das Leben hatte seine absurden Augenblicke, aber das Leben selbst war nicht absurd. Es war seltsam, schwierig, wundersam, köstlich, rätselhaft, aber nicht einfach absurd. Deshalb würde Nina überleben, weil ihr Tod unsinnig gewesen wäre.
Noch immer ängstlich und besorgt, aber eigentlich schon getröstet lief Laura ins Wohnzimmer zurück, kniete neben ihrer Pflegemutter nieder und nahm sie in die Arme.
Der Rettungsdienst in Newport Beach war erstklassig organisiert. Seit Lauras Anruf waren erst drei, vier Minuten vergangen, als bereits der Krankenwagen vorfuhr. Die beiden Sanitäter waren erfahren und gut ausgerüstet. Trotzdem konnten sie nur noch Ninas Tod feststellen: Sie war zweifellos schon tot gewesen, als sie zusammenbrach.
10
Eine Woche nach Lauras Rückkehr ins McIllroy Home und acht Tage vor Weihnachten wies Mrs. Bowmaine Tammy Hinsen wieder das vierte Bett im Zimmer der Ackerson-Zwillinge zu. In einem ungewöhnlich vertraulichen Gespräch mit Laura, Ruth und Thelma erläuterte die Sozialarbeiterin ihnen den Grund für diese Verlegung: »Ich weiß, ihr sagt, daß Tammy sich bei euch Mädchen nicht wohl fühlt, aber sie scheint hier besser zurechtzukommen als anderswo. Wir haben sie in verschiedenen Zimmern untergebracht, aber die anderen Kinder vertragen sich nicht mit ihr. Ich weiß nicht, was die Kleine an sich hat, daß sie zur Ausgestoßenen wird, aber von ihren Zimmergenossinnen bezieht sie am Ende immer Prügel.«
Als sie vor Tammys Ankunft wieder in ihrem Zimmer waren, nahm Thelma die Yogagrundhaltung mit sitzend übereinandergeschlagenen Beinen ein. Seit die Beatles sich für fernöstliche Meditation interessierten, hatte auch sie Yoga gelernt, weil sie sich sagte, wenn sie eines Tages Paul McCartney begegne (was unweigerlich passieren würde), »wäre es nett, wenn wir etwas gemeinsam hätten, was der Fall ist, wenn ich ‘ne Ahnung von diesem Yogascheiß habe«.
Anstatt zu meditieren, fragte sie jetzt: »Was hätte die Kuh wohl getan, wenn ich gesagt hätte: >Mrs. Bowmaine, die anderen Kinder mögen Tammy nicht, weil sie sich von dem Aal hat bumsen lassen und ihm bei der Suche nach weiteren Opfern geholfen hat, so daß sie aus unserer Sicht der Feind ist!?< Wie hätte die Bowmaine reagiert, wenn ich ihr das hingeknallt hätte?«
»Sie hätte dich ein verlogenes Aas genannt«, antwortete Laura und ließ sich rücklings auf ihr wackeliges Bett fallen.
»Zweifellos! Und dann hätte sie mich zum Mittagessen verspeist. Habt ihr gesehen, wie unförmig sie geworden ist? Sie wird jede Woche fetter. Eine Riesin dieser Art ist gefährlich: eine heißhungrige Allesfresserin, die imstande ist, das nächste Kind mit Haut und Haar so beiläufig zu verschlingen, wie sie ‘ne Familienpackung Eiscreme verdrücken würde.«
Ruth stand am Fenster und blickte auf den Spielplatz hinab. »Wie die anderen Kinder Tammy behandeln, ist nicht fair«, meinte sie.
»Das Leben ist nicht fair«, sagte Laura.
»Das Leben ist aber auch keine Kinderparty«, stellte Thelma fest. »Jesus, Shane, werd bloß nicht philosophisch, wenn du nur Phrasen dreschen willst. Du weißt, daß wir hier Phrasen kaum weniger hassen, als wir’s hassen, das Radio aufzudrehen und Bobby Gentrie seine Ode to Billy Joe singen zu hören.«
Als Tammy eine Stunde später einzog, war Laura nervös. Schließlich hatte sie Sheener umgebracht, und Tammy war von ihm abhängig gewesen. Sie rechnete damit, daß Tammy zornig und verbittert sein würde, aber die Blondine begrüßte sie nur mit einem aufrichtigen, scheuen und ergreifend traurigen Lächeln.
Nach zwei Tagen bei ihnen stellte sich allmählich heraus, daß Tammy dem Verlust der anormalen Zuneigung des Aals mit einer Art perverser Trauer, aber auch mit gewisser Erleichterung begegnete. Ihr hitziges Temperament, das an die Oberfläche gekommen war, als sie Lauras Bücher zerfetzte, war abgekühlt. Tammy war wieder das farblose, schmächtige, unscheinbare Mädchen, das Laura an ihrem ersten Tag im McIllroy Home gar nicht wie ein wirklicher Mensch vorgekommen war, sondern wie eine geisterhafte Erscheinung, die Gefahr lief, sich in körperlosen Rauch aufzulösen und vom ersten kräftigen Windstoß vollends verweht zu werden.
Nach dem Tod des Weißen Aals und Nina Dockweilers führte Dr. Boone, ein Psychotherapeut, der jeden Dienstag und Samstag ins McIllroy Home kam, mehrere halbstündige Therapiegespräche mit Laura. Boone konnte nicht glauben, daß sie imstande sein sollte, den Schock über Sheeners Überfall und Ninas tragischen Tod ohne psychischen Schaden zu verarbeiten. Lauras gewandte Beschreibung ihrer Empfindungen, der Erwachsenenwortschatz, mit dem sie schilderte, wie sie die Ereignisse in Newport Beach im Rückblick sah, stellten ihn vor immer neue Rätsel. Laura, die ohne Mutter aufgewachsen war, ihren Vater verloren hatte, in viele kritische, gefährliche Situationen geraten war - und vor allem von der wundervollen Liebe ihres Vaters profitiert hatte -, war elastisch wie ein Schwamm und nahm alles in sich auf, was das Leben ihr brachte. Aber obwohl sie leidenschaftslos über Sheener und mit einer Mischung aus Zuneigung und Trauer über Nina sprechen konnte, hielt der Psychotherapeut ihre Gelassenheit lediglich für einen Abwehrschild.
»Du träumst also von Willy Sheener?« fragte er, als sie in dem kleinen Büro, das im McIllroy für ihn reserviert war, neben ihm auf dem Sofa saß.
»Ich habe nur zweimal von ihm geträumt. Das sind natürlich Alpträume gewesen. Aber alle Kinder haben welche.«
»Du träumst auch von Nina. Sind das ebenfalls Alpträume?«
»O nein! Das sind schöne Träume.«
Er schien überrascht zu sein. »Bist du traurig, wenn du an Nina denkst?«
Читать дальше