Erst auf dem letzten Treppenabsatz nahm Laura beißenden Rauchgeruch als Folge des Brandes wahr. Als sie oben die Korridortür aufstieß, sah sie, daß die Fenster an beiden Enden des Flurs im zweiten Stock offen standen und daß im Gang elektrische Ventilatoren aufgestellt worden waren, um die verpestete Luft nach beiden Richtungen hinauszubefördern.
Die Tür zum Zimmer der Ackersons wies einen neuen, grundierten Rahmen mit noch nicht lackiertem Blatt auf, aber die Wand um den Rahmen herum war rußig und rauchgeschwärzt. Ein handgemaltes Schild warnte vor Gefahren. Da keine Tür im McIllroy sich absperren ließ, ignorierte Laura das Warnschild, stieß die Tür auf, trat über die Schwelle und sah, was sie zu sehen befürchtet hatte: ein Bild der Verwüstung.
Die Flurbeleuchtung hinter ihr und das purpurrote Zwielicht vor den Fenstern erhellten den Raum nur unzulänglich, aber sie sah, daß die Überreste der verbrannten Möbel fortgeschafft worden waren: Das Zimmer war leer bis auf den scharfen Brandgeruch. Der rußgeschwärzte Fußboden war angekohlt, schien aber noch tragfähig zu sein. Die Wände waren rauchgeschwärzt. Die Türen des Einbaukleiderschranks waren verbrannt, einige Holzsplitter hafteten noch an den ausgeglühten Angeln.
Die Scheiben der beiden Fenster waren geplatzt oder von den vor den Flammen Flüchtenden eingeschlagen worden; sie waren provisorisch durch vor die Fenster genagelte durchsichtige Plastikfolien ersetzt worden. Zum Glück für die übrigen Heimkinder hatte das Feuer sich nicht durch die Wände, sondern durch die Zimmerdecke gefressen. Laura konnte in den Dachboden blicken. Undeutlich waren die mächtigen Eichenbalken zu erkennen. Der Brand war offenbar gelöscht worden, bevor die Flammen aus dem Dach schlugen, denn der Abendhimmel war nicht zu sehen.
Sie atmete laut keuchend - nicht nur wegen des anstrengenden Dauerlaufes von Caswell hierher, sondern weil panikartige Angst ihr die Kehle zuschnürte. Und bei jedem Atemholen bekam sie den Übelkeit erregenden Ruß- und Rauchgeschmack in die Kehle.
Als Laura in Caswell von dem Brand im McIllroy gehört hatte, war ihr die Ursache klar gewesen, obwohl sie sich diese nicht hatte eingestehen wollen. Tammy Hinsen war einmal mit einem kleinen Behälter Feuerzeugbenzin und Streichhölzern erwischt worden. Als Laura von der geplanten Selbstverbrennung gehört hatte, war ihr sofort klar gewesen, daß Tammy den ernsten Vorsatz gehabt hatte: Verbrennung wäre für sie die angemessene Form des Selbstmordes gewesen.
Bitte, lieber Gott, laß sie allein im Zimmer gewesen sein. Bitte!
Laura mußte wegen des Gestanks und Geschmacks würgen, wandte sich von dem ausgebrannten Zimmer ab und stolperte in den Korridor hinaus.
»Laura?«
Sie blickte auf und sah Rebecca Bogner vor sich stehen. Laura atmete stoßartig, weil der Brechreiz übermächtig zu werden drohte, aber sie schaffte es trotzdem irgendwie, die beiden Namen zu krächzen: »Ruth ... Thelma?«
Rebeccas trüber Blick schloß die Möglichkeit aus, die Zwillinge könnten heil geblieben sein, aber Laura wiederholte die Namen ihrer Freundinnen und merkte dabei, in welch mitleiderregendem Tonfall sie es sagte.
»Dort hinten«, sagte Rebecca und deutete zum Nordende des Korridors. »Im vorletzten Zimmer links.«
Wider besseres Wissen schöpfte Laura plötzlich neue Hoffnung, als sie zu dem angegebenen Zimmer lief. Drei der Betten waren leer, aber im vierten, auf das das Licht der Nachttischlampe fiel, lag ein Mädchen mit dem Gesicht zur Wand.
»Ruth? Thelma?«
Das Mädchen auf dem Bett stand langsam auf: eine der Ak-kersons, unverletzt. Sie war ungekämmt und trug ein mausgraues, stark verknittertes Kleid; ihr Gesicht war vom Weinen aufgequollen, sie hatte Tränen in den Augen. Sie trat einen Schritt auf Laura zu, blieb dann aber stehen, als ob selbst diese kleine Anstrengung schon zuviel wäre.
Laura stürzte auf sie zu, schloß sie in die Arme.
Sie verbarg ihr Gesicht an Lauras Schulter, drückte es gegen Lauras Hals und sprach endlich mit gequälter Stimme: »Oh, ich wollte, ich wär’s gewesen, Shane! Warum bin’s nicht ich gewesen, wenn’s eine von uns hat treffen müssen?«
Bis zu dem Moment, da sie sprach, hatte Laura sie für Ruth gehalten. Laura weigerte sich noch immer, das Schlimmste zu glauben.
»Wo ist Ruthie?«
»Tot. Ruthie ist tot. Ich dachte, du wüßtest, daß meine Ruthie tot ist!«
Laura hatte das Gefühl, in ihrem Innersten zerreiße etwas. Ihr Schmerz war so überwältigend, daß er nicht einmal Tränen zuließ. Sie stand stumm und betäubt da.
Sie hielten einander lange wortlos umarmt. Draußen ging die Abenddämmerung allmählich in Nacht über. Die beiden ließen sich auf der Bettkante nieder.
An der Tür erschienen zwei weitere Mädchen. Dies war offenbar ihr Zimmer, aber Laura schickte sie mit einer Handbewegung fort.
Thelma starrte vor sich hin. »Ich bin von einem Kreischen aufgewacht«, erzählte sie mit leiser Stimme, »von einem schrecklichen Kreischen ... und von einem grellen Licht, das mich geblendet hat. Und dann ist mir klar geworden, daß unser Zimmer in Flammen stand. Tammy war in Flammen gehüllt, sie hat wie eine Fackel gebrannt! Sie hat brennend und kreischend im Bett um sich geschlagen ...«
Laura legte ihr den Arm um die Schultern und wartete schweigend.
». dann haben die Flammen sich plötzlich ausgebreitet -schschsch ging’s die Wand hinauf, ihr Bett brannte lichterloh, der Teppich hat zu brennen angefangen .«
Laura erinnerte sich, wie Tammy zu Weihnachten mit ihnen gesungen hatte und danach von Tag zu Tag ruhiger geworden war, als finde sie allmählich inneren Frieden. Jetzt war offensichtlich, daß dieser Friede die Folge ihres Entschlusses gewesen war, ihren Qualen endgültig ein Ende zu bereiten.
»Tammy hatte das Bett neben der Tür, die Tür brannte, deshalb schlug ich das Fenster über meinem Bett ein. Ich rief Ruth, sie ... s-sie hat geantwortet, sie kommt gleich, aber der Qualm war so dicht, daß ich sie nicht sehen konnte, und dann kam Heather Dorning, die in deinem früheren Bett schlief, zum Fenster, und ich half ihr raus, und dann sah ich durch den Rauch, daß Ruth versucht hatte, ihre Bettdecke über Tammy zu werfen, um die Flammen zu e-ersticken, aber die Decke hatte auch Feuer gefangen, und ich hab g-gesehen, wie Ruth ... wie Ruth ... Ruth in Flammen stand ...«
Draußen ging die purpurrote Abenddämmerung in eine sternenklare Nacht über.
Die Schatten in den Ecken des Zimmers wurden dunkler, bedrohlicher.
Der noch in der Luft hängende Brandgeruch schien stärker zu werden.
». und ich wollte hinlaufen, um sie rauszuholen, natürlich war’ ich hingelaufen, aber dann ist das F-Feuer explodiert, es hüllte das ganze Zimmer ein, und der Qualm war so schwarz und dicht, daß ich weder Ruth noch irgendwas sehen konnte ... Dann hörte ich Sirenen, laute Sirenen ganz in der Nähe, und redete mir ein, die Feuerwehr würde rechtzeitig kommen und Ruth retten, aber das ist eine L-L-Lüge gewesen, die ich einfach glauben wollte, und ... Ich hab’ sie dort drin zurückgelassen, Shane! O Gott, ich bin durchs Fenster abgehauen und hab’ Ruthie brennend, in F-F-Flammen zurückgelassen .«
»Du hast nichts anderes tun können«, versicherte Laura ihr.
»Ich hab’ Ruthie brennend zurückgelassen.«
»Du hättest ihr nicht helfen können.«
»Ich hab’ Ruthie im Stich gelassen.«
»Wem hätte es genützt, wenn du auch umgekommen wärst?«
»Ich hab’ Ruthie brennend zurückgelassen.«
Im Mai 1968, nach ihrem dreizehnten Geburtstag, kam Thelma ebenfalls nach Caswell Hall und bezog dort ein Zimmer gemeinsam mit Laura. Die Heimleitung war mit dieser Lösung einverstanden, weil Thelma unter Depressionen litt und auf keine Therapie reagierte. Vielleicht fand sie den benötigten Trost in ihrer Freundschaft mit Laura.
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