Jetzt dachte er an seine Zeit im Labor. Eines Abends hatte er versucht, ein Präparat aus Himatanthus-Blättern zu extrahieren. Auch Karen hatte noch gearbeitet und irgendein Experiment mit ihren Spinnen überwacht. Sie waren allein in diesem Raum gewesen. Sie hatten nebeneinander am Labortisch gearbeitet, ohne ein einziges Wort zu sagen. In der Luft war schwer ihre gegenseitige Abneigung gehangen. Aber dann hatten sich ihre Hände zufällig ganz leicht berührt … Vielleicht hätte ich Karen damals anbaggern sollen … natürlich hätte sie mir wahrscheinlich eine runtergehauen …
Ein sterbender Mann denkt meist über seine verpassten sexuellen Gelegenheiten nach. Wer hatte das noch gesagt? Vielleicht stimmte es wirklich …
Er begann, sich schläfrig zu fühlen … hinüberzudämmern …
»Rick!«
Ihre Stimme weckte ihn auf. Sie drang schwach durch die Erde.
Ich bin hier, Karen!, schrie er, wenn auch nur in seinem Geist. Seinen Mund konnte er nicht bewegen.
»Rick! Wo bist du?«
Mach schnell! Neben mir rumort ein Staubsauger mit riesigen Beißern.
Karens Lampe flackerte ganz kurz auf, das erste Licht, das er seit langer Zeit gesehen hatte – und dann verschwand es wieder. Erneut umgab ihn völlige Dunkelheit. Sie war weitergegangen.
Komm zurück!, schrie er im Geist. Ich bin hier!
Stille. Sie war weg.
Und dann begann der schrecklichste der Schrecken. Etwas Feuchtes und sehr Schweres glitt über seinen Knöchel und drückte seinen Fuß in den Boden. Das alles hier passierte gar nicht! Als Nächstes spürte er, wie die einzelnen Segmente der Larve sich – plop, plop, plop – über sein Bein schoben. Nein! Jetzt glitten die Segmente über seinen Bauch und jetzt über seine Brust und pressten die Atemluft aus ihm heraus. Nein! Bitte nicht! Die Wespenlarve lag jetzt mit ihrem ganzen Gewicht auf ihm und erstickte ihn allmählich. Er konnte ihr Herz schlagen hören. Es pochte gegen seine Brust. Er hörte ein feuchtes Klick-klick. Die Fresszangen begannen mit ihrer Arbeit.
Klick-klick. Schnipp-schnapp. Schnick.
Das Licht kam zurück. Ein Strahl fiel in die Zelle. Er beleuchtete die schwarzen Schneidemesser, die um einen eigenartig weichen Mund herumschnalzten, der wie ein bleicher Anus aussah. Und das alles direkt vor seinem Gesicht.
Karen leuchtete jetzt mit ihrer Stirnlampe in die Zelle hinein und sah die Szene. »Oh mein Gott, Rick!« Sie begann die Tür aufzuhacken. Steine und Lehm spritzten nach allen Seiten.
Inzwischen streiften die Schneidewerkzeuge über seine Stirn. Die Larve schnüffelte an ihm herum und suchte nach einer weichen Stelle, wo sie zu kauen beginnen könnte. Sie klopfte mit ihren Mundwerkzeugen langsam seine Schulter entlang, wobei sie einen Sabberstreifen hinterließ. Er fühlte, wie ihre Fresszangen ihn in die Nase zwickten. Gleichzeitig drückte sich der feuchte Mund wie bei einem Kuss gegen seine Lippen, nur dass er dabei auf ihn heruntersabberte. Rick musste automatisch husten und würgen.
»Halt durch, Rick –«
Mach schnell, dieser Bastard will mir einen Knutschfleck verpassen.
Sie zwängte sich durch die Öffnung, warf sich auf die Larve und trat mit beiden Füßen auf sie ein, um sie von Ricks Gesicht wegzustoßen. »Du lässt ihn schön in Ruhe!«, rief sie und rammte ihre Machete in die Larve. Diese japste, während ein Zischen aus ihren Atemlöchern drang. Karen zog die Klinge heraus, holte mit der Machete aus und enthauptete die Larve mit einem einzigen Schlag. Der tropfenähnliche Kopf, der immer noch kaute, flog in hohem Bogen durch die Zelle, während der kopflose Körper sich in Krämpfen wand und vor- und zurückpeitschte. Karen schlug und stach weiterhin auf die enthauptete Larve ein, was jedoch deren wilde Bewegungen nur noch zu verstärken schien.
Sie legte ihre Arme um Rick und zog ihn aus der Kammer, während die Larve weiterhin gegen die Zellenwände donnerte. Ein seltsamer Geruch verfolgte sie.
Das ist nicht gut, sagte Hutter im Geist. Das war ein Alarmpheromon.
Die sterbende Larve schrie um Hilfe und wimmerte in der Geruchssprache nach ihrer Mutter. Dieser Geruch erfüllte bald das ganze Nest. Wenn die Mutter ihn wahrnahm …
Danny meldete sich über Funk. »Was ist los da unten?«
»Ich habe Rick. Er lebt. Bleib auf Empfang, ich bringe ihn jetzt raus.«
Rick war wie ein Sack Kartoffeln, eine reglose Last, aber Karen verfügte über erstaunliche Kräfte. Sie hatte Rick, und sie würde sich eher töten lassen, als ihn jetzt noch aufzugeben. Sie kroch durch die große Kammer und zog ihn hinter sich her. Sie war auf dem Weg zum senkrechten Schacht …
In diesem Moment war Dannys Stimme in ihrem Headset zu hören: »Sie kommt zurück!«
Kapitel 37
TANTALUS-KRATER
31. OKTOBER, 14:00 UHR
Die Solitärwespe war auf dem Rückweg zu ihren Kindern. Zwischen ihren Beinen baumelte eine gelähmte Raupe. Sie flog ein paarmal im Zickzack über ihr Nest, ging etwas tiefer und suchte den Lehmkamin ihres Baus.
Innerhalb kürzester Zeit hatte sie begriffen, dass jemand ihren Kamin zerstört hatte. Ihr Nest war beschädigt worden. Ein Eindringling.
Danny verkroch sich hinter seinem Stein und duckte sich unter eine Pflanze, wobei er so pflanzen- und steingleich wie möglich zu werden versuchte. »Du Idiotin!«, flüsterte er Karen zu. Sie hatte ihn in dieser Mikrowelt alleingelassen.
Die Mutter landete mit ihrer Raupe. Mit vibrierenden Flügeln rückte sie auf den Nesteingang vor. In diesem Moment fing sie den Sterbegeruch ihres toten Babys auf, der aus dem Loch herausdrang. Sie begann, wild mit den Flügeln zu schlagen. Die Luft war erfüllt von deren Donner. Sie ließ die Raupe fallen und stürzte mit dem Kopf voraus in das Loch.
Karen King hörte in der Erde über sich ein lautes Rumpeln und Poltern. Es war das tiefe Summen der Flügel, vermischt mit dem Klappern und Klirren des Außenskeletts einer sich durch einen Erdtunnel zwängenden Wespe.
»Danny«, rief sie in ihr Mikrofon. »Was passiert da?«
Keine Antwort.
»Sprich mit mir, Danny!«
Die Mutter war unterwegs zu ihr, ein giftiges, schwer gepanzertes Bündel mütterlichen Zorns.
Karen hörte die Wespe kommen. Sie kauerte in der Kammer am Fuß des senkrechten Schachts. Rick lag neben ihr auf dem Boden. Die Geräusche waren Furcht einflößend – und informativ. Ein scharfer Geruch wehte in den Raum – eine Vorauswelle der Wut einer Mutter.
Karen holte ihren Diamantschärfer heraus und begann, fieberhaft die Schneide ihrer Machete zu schleifen, zing, swisch, zing. »Halt durch, Rick«, flüsterte sie. Zing, swisch, zing. Sie bearbeitete den Stahl so lange, bis die Klinge eine äußerst scharfe Schneide besaß. Sie sollte eigentlich einen massiven bioplastischen Panzer durchschlagen können. Dann stellte sie sich an die Öffnung und hielt die Klinge über den Kopf. »Komm schon, komm schon«, murmelte sie.
Die Mutter erreichte den Boden des Schachts. Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts.
Plötzlich tauchte der riesige, schwarz-gelb gestreifte Wespenkopf in der Öffnung auf.
Karen schlug die Machete mit aller Kraft der Wespe ins Gesicht.
Die Klinge prallte vom Auge der Wespe ab, auch wenn sie eine Kerbe hinterließ. Die Dame hatte gepanzerte Augen.
Die Wespe stieß jetzt ihren immer noch umgedrehten Kopf in die Kammer hinein, umklammerte die Machete mit ihren Mandibeln, riss Karen die Klinge aus der Hand und schleppte diese zurück in das Loch. Karen hörte knirschende Metallgeräusche. Die Wespe zermalmte gerade ihre letzte Waffe.
Plötzlich erzitterte und wackelte der ganze Raum. Die Wespe schlug mit ihren Flügeln an die Tunnelwände. Sie machte sich zum Angriff bereit. Karen hörte die Wespe keuchen.
Sie schaute über die Schulter, und der Strahl ihrer Stirnlampe glitt über Rick. Er wirkte wie tot.
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