Zurück an seinem Schreibtisch im Hauptquartier, starrte Watanabe die zerkratzte Metallwand an, wie er es oft tat, wenn er seine Gedanken ordnen wollte. Er konnte irgendwie das Gefühl nicht loswerden, dass jemand absichtlich diese Kleidungsstücke in den Wagen gelegt hatte. Vor allem diese Brieftasche. Leute, die freiwillig abreisen, lassen doch nicht ihre Brieftasche zurück. Wenn Jenny Linn freiwillig irgendwohin gegangen wäre, hätte sie ihre Brieftasche mitgenommen. Und was war, wenn sie nicht freiwillig abgereist war? Wurde sie vielleicht entführt? Hatte es einen Bootsunfall gegeben? Ein untergegangenes Boot würde das gleichzeitige Verschwinden so vieler Menschen erklären.
Er rief das Dezernat für Eigentumsdelikte an und fragte, ob es irgendwelche Berichte über vermisste Boote gab. Nicht in letzter Zeit. Er starrte noch etwas länger diese Wand an. Vielleicht Zeit für ein Spam-Sushi als Denkhilfe.
Dann klingelte das Telefon. Es war ein Beamter der Vermisstenabteilung. »Ich habe noch jemand für Sie.«
»Ja? Wen?«
»Eine Joanna Kinsky hat angerufen, weil ihr Mann gestern Abend nicht von der Arbeit zurückgekehrt ist. Er ist Ingenieur bei Nanigen.«
»Noch jemand von Nanigen? Sie machen Witze –«
»Ms. Kinsky sagte, sie habe die Firma angerufen. Dort habe niemand ihren Mann seit gestern Nachmittag gesehen.«
Der Sicherheitschef von Nanigen hatte diesen Vermisstenfall nicht gemeldet. Das waren einfach zu viele Nanigen-Leute, die sich in diesem ruhigen, kleinen Honolulu irgendwie in Luft auflösten.
Dann folgte ein weiterer interessanter Anruf. Dieses Mal war es Dorothy Girt von der Abteilung für wissenschaftliche Forensik. »Dan, würden Sie mal zu uns runterkommen und sich etwas anschauen? Es geht um den Fong-Fall. Ich habe da etwas gefunden.«
Scheiße. Der Willy-Fong-Schlamassel. Das konnte er jetzt gar nicht brauchen.
Don Makele betrat Vin Drakes Büro. Er schaute ziemlich beunruhigt, wenn nicht sogar verstört drein. »Telius und Johnstone sind tot.«
Drake biss die Zähne aufeinander. »Was ist passiert?«
»Ich habe den Funkkontakt zu ihnen verloren. Sie hatten die Überlebenden aufgespürt. Und sie hatten die, äh, Rettungsoperation bereits begonnen«, berichtete Makele. Er war wieder einmal schweißüberströmt. »Dann wurden sie von irgendetwas angegriffen. Ich hörte Schreie und dann – Telius – nun … er wurde gefressen.«
»Gefressen?«
»Ich habe es mit angehört. Irgendein Beutegreifer. Ich habe ihn noch eine Weile angefunkt. Aber ich konnte keine Signale mehr auffangen.«
»Was glauben Sie?«
»Ich glaube, sie sind alle tot.«
»Warum?«
»Meine Männer waren die besten. Etwas hat sie drangekriegt, trotz der Waffen und der Panzerung.«
»Und die Studenten –«
Makele schüttelte den Kopf. »Die hatten keine Chance.«
Drake lehnte sich zurück. »Also ein Unfall mit einem Raubtier.«
Makele saugte an seinen Lippen. »Als ich in Afghanistan war, habe ich eine Sache über Unfälle gelernt.«
»Und das wäre?«, fragte Drake.
»Unfälle passieren meistens Arschlöchern.«
Drake kicherte. »Das stimmt.«
»Die Rettungsmission – ist gescheitert, Sir.«
Drake begriff, dass Don Makele genau verstand, was mit »Rettungsmission« gemeint war. Trotzdem hatte Drake weiterhin seine Zweifel. »Wie können Sie so sicher sein, Don, dass die Rettung – äh – gescheitert ist?«
»Es gibt keine Überlebenden. Da bin ich mir sicher.«
»Zeigen Sie mir die Leichen.«
»Aber da gibt es keine mehr.«
»Ich werde erst glauben, dass diese Studenten nicht mehr leben, wenn ich Beweise für ihren Tod sehe.« Drake lehnte sich zurück. »Solange es noch Hoffnung gibt, werden wir keine Mühen scheuen, um sie zu retten. Keinerlei Mühen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Makele verließ Drakes Büro, ohne ein Wort zu sagen. Da gab es auch nichts zu sagen.
Vin Drake war über das, was Telius und Johnstone zugestoßen war, gar nicht so unglücklich. Er musste sie jetzt nicht mehr mit wertvollen Aktien bezahlen. Trotzdem konnte er sich immer noch nicht sicher sein, dass alle Studenten tot waren. Sie hatten sich als überaus überlebensfähig und ziemlich zäh erwiesen. Deshalb würde er weiter versuchen, sie auszuschalten – nur für den Fall, dass noch welche am Leben waren.
30. OKTOBER, 16:00 UHR
Das Ding wäre im Bostoner Verkehr absolut geil«, jubelte Karen King. Sie steuerte den Hexapod einen steilen Abhang hinauf und umkurvte dabei Steinhaufen und Grasstängel. Sie ließ ihn dabei so schnell laufen, dass er plötzlich hin und her taumelte.
»Ich bitte dich, pass doch auf! Schau dir nur meinen Arm an!« Danny saß auf dem Beifahrersitz und hielt seinen linken Arm, der wie eine dicke Wurst in der Schlinge hing. Er war inzwischen so sehr angeschwollen, dass der Hemdsärmel beinahe zu eng war. Der Hexapod kletterte immer weiter mit hell summenden Beinen durch eine Welt, die in Millionen von Grüntönen leuchtete. Im hinteren Frachtraum saß zusammengekauert Erika, die sie durch ein Seil gesichert hatten. Rick lief neben der Maschine her. Er trug das Gasgewehr und hielt ständig Ausschau nach Beutegreifern. Um die Schulter hatte er sich den Gurt mit den Nadelpatronen geschlungen.
Das Gelände wurde immer steiler. Während der Abhang des Tantalus weiter unten noch mit Erde bedeckt war, gab es hier nur brüchiges Lavagestein, auf dem einfache Gräser und kleine Farne wuchsen. Dazwischen streckten Koa- und Guavenbäume ihre gewundenen Äste in die Luft und stellten einen starken Gegensatz zu den benachbarten dünnen, kerzengeraden Stämmen der Loulu-Palmen dar. Viele Bäume waren dicht mit Schlingpflanzen überwuchert. Über die Berghänge blies eine stetige Brise und rüttelte an den Ästen. Gelegentlich wurde sie so stark, dass selbst der Laufroboter samt seinen Passagieren ins Wanken geriet. Eine Nebelwand driftete durch die Pflanzenwelt. Tatsächlich war es eine Wolke, die jedoch schon bald von strahlendem Sonnenschein abgelöst wurde.
Der Tod von Peter Jansen und Amar Singh machte den Studenten immer noch schwer zu schaffen. Von den acht Personen, die in dieser Miniwelt gestrandet waren, hatten nur vier überlebt. In nur zwei Tagen hatte sich ihre Zahl halbiert. Ein Verlust von fünfzig Prozent! Das war eine schreckliche Statistik, dachte Rick Hutter. Schlimmer als die Lebenserwartung der Soldaten, die an der Invasion in der Normandie teilgenommen hatten. Rick befürchtete noch mehr Todesfälle – wenn sie nicht irgendein Wunder rettete. Zu Nanigen konnten sie jedenfalls keinen Kontakt aufnehmen. Vin Drake setzte tatsächlich alle Hebel in Bewegung, um sie zu finden und auszuschalten. »Drake sucht immer noch nach uns«, teilte Rick den anderen mit. »Da bin ich mir sicher.«
»Das reicht jetzt«, fuhr ihn Karen an. Es war sinnlos, über Vin Drake zu sprechen, sie fühlten sich dadurch nur noch hilfloser. »Peter würde nicht aufgeben«, meinte sie dann schon etwas ruhiger, während sie die Steuerung bediente und die Laufmaschine senkrecht einen steilen Felsen emporklettern ließ. Rick war zuvor an Bord gesprungen, um sich den Aufstieg zu ersparen.
Sie hatten die Zone der Gebirgsvegetation erreicht. Gelegentliche Lücken im Blätterdach offenbarten fantastische Ausblicke. Um sie herum stiegen die Felswände und Bergklingen des Pali auf. Ganz in ihrer Nähe rauschte ein Wasserfall. Irgendwo über ihnen bildete ein gekurvter Grat den Rand des Tantalus-Kraters. Bei jedem ihrer Schritte störte die Maschine die unterschiedlichsten Lebewesen auf. Erschreckte Springschwänze ließen sich hoch durch die Luft schnellen, Würmer ringelten sich aus der Gefahrenzone, und überall krabbelten Milben. Manche kletterten sogar die Beine des Hexapods hinauf. Dauernd mussten sie Milben von ihrem Gefährt wischen. Andernfalls würden sie überallhin kriechen und alles mit kleinen Kotbällchen verschmutzen. In der Luft wimmelte es nur so von Insekten, sie summten an ihnen vorbei, stiegen in weiten Spiralen auf und ab und schimmerten im Sonnenlicht.
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