Telius grunzte. Um seinen Hals hing ein Feldstecher. Telius stand auf und suchte damit die Baumkronen in der Umgebung nach irgendwelchen Bewegungen ab. Er lauschte auf jedes Geräusch. Die Spione waren irgendwo da oben. Sie würden nicht leicht aufzuspüren sein.
Er konnte nichts erkennen. Dann deutete er schweigend mit dem Finger in eine bestimmte Richtung.
Johnstone steuerte den Hexapod per Joystick schnell und glatt über den Waldboden. Der Laufroboter bewegte sich fast lautlos vorwärts. Nur die Motoren an den Beinen gaben ein helles Surren von sich.
Als sie an einem Baum, einer Pandane, ankamen, deutete Telius nach oben. »Da rauf«, sagte er kurz und knapp.
Johnstone betätigte einige Schalter. Die Klauen an den Füßen des Roboters zogen sich in die Beinummantelungen zurück. Am Ende jedes Beins kamen polsterartige Gebilde zum Vorschein, die mit extrem feinen Borsten bestückt waren. Nanohärchen, die den Spatula-Härchen an den Füßen eines Geckos ähnelten und an jeder Oberfläche, sogar Glas, fest anhafteten. Der Hexapod begann jetzt mit deren Hilfe den Baumstamm hinaufzusteigen. Die beiden im Cockpit festgeschnallten Männer schienen kaum zu bemerken, dass der Laufroboter jetzt senkrecht nach oben marschierte. Bei ihrer Größe konnten sie die Schwerkraft sowieso kaum spüren.
Die Kletterer erreichten die obersten Äste des Ohia-Baums. Auf der letzten Strecke ging Karen King voraus. Sie kroch und balancierte einen Ast entlang, bis sie zu einem im hellen Sonnenlicht stehenden Blattbüschel gelangte, von dem aus man eine großartige Aussicht hatte. Die anderen folgten ihr und stellten sich alle nebeneinander inmitten dieser Blätter auf einen Ast, der in der Brise ganz leicht hin und her schwang. Die roten Ohia-Blüten bedeckten wie hingesprüht die gesamte Baumkrone. Man fühlte sich an ein Feuerwerk erinnert. Die Blumen waren eine einzige gleißende Explosion von roten Staubgefäßen und dufteten ungeheuer süß.
Zwischen den Blüten öffnete sich ein Blick hinaus ins Manoa-Tal und auf die umliegenden Bergketten. Das Tal wurde von Berghängen umschlossen, die mit üppigem Grün bedeckt waren und von einzelnen Felsabstürzen durchbrochen wurden. Die Bergspitzen und Grate weiter oben waren in Wolken gehüllt. Aus Einschnitten in den bewaldeten Bergketten stürzten Wasserfälle in die Tiefe. Tantalus Peak, der kreisförmige Kraterrand eines erloschenen Vulkans, schaute von Norden her über das Tal. Jenseits des engen Taleingangs erhoben sich im Westen die Hochhäuser von Honolulu und zeigten, wie gering die Entfernung zwischen der Stadt und dem Tal tatsächlich war. Trotzdem hätte das jenseits von Pearl Harbor liegende Nanigen-Hauptquartier für sie auch eine Million Kilometer entfernt sein können.
Im Südosten sahen sie das Gewächshaus und den Parkplatz, eine unbefestigte Fläche, die mit Regenpfützen übersät war. Der Parkplatz schien leer und verlassen. Kein Anzeichen von irgendwelchen Menschen oder Fahrzeugen. Am engen Taleingang war der Tunnel deutlich sichtbar. Sie konnten auch das Sicherheitstor erkennen. Es war verschlossen.
Peter führte eine Kompasspeilung zum Parkplatz durch. »Der Parkplatz liegt in einer Peilrichtung von hundertsiebzig Grad Südsüdost«, teilte er den anderen mit. Dann schaute er auf die Uhr. Es war kurz nach elf Uhr morgens. Fast drei Stunden, bevor der Shuttle-Lkw eintreffen würde. Wenn er denn überhaupt kam. Im Moment war im ganzen Tal kein Mensch zu sehen.
Über ihren Köpfen donnerte etwas über die Baumkrone. Sie duckten sich instinktiv und klammerten sich an die Blätter. Peter warf sich sogar der Länge nach zu Boden. »Achtung!«, schrie er, und dann sauste ein – Schmetterling vorbei. Seine orange-gold-schwarz gemusterten Flügel verursachten diesen dröhnenden Lärm, während er unschuldig durch das Sonnenlicht tanzte. Das Insekt schien zu spielen. Schließlich landete es mit donnernden Flügeln auf einer Ohia-Blüte, in der Nektartröpfchen in der Sonne glänzten. Der Schmetterling rollte seinen Saugrüssel aus und senkte ihn tief in die Blüte hinein, bis seine Spitze ein Tröpfchen berührte. Sie hörten saugende, schmatzende Geräusche, als er ungeheure Mengen an Nektar in seinen Magen pumpte.
Peter hob langsam den Kopf.
Karen lachte. »Du solltest dich mal sehen, Peter. In Panik versetzt von einem Schmetterling!«
»Na ja, er ist ziemlich – eindrucksvoll«, sagte Peter verlegen.
Erika erzählte ihnen, dass es sich um einen Kamehameha-Schmetterling handelte, der größten Schmetterlingsart in Hawaii. Er sammelte jetzt aus anderen Blüten Nektar ein, während der Wind ihnen einen bitteren Gestank in die Nase trieb. Der Schmetterling war vielleicht schön anzuschauen, aber er stank entsetzlich.
»Das ist ein chemisches Verteidigungsmittel«, sagte Erika Moll. »Phenole, glaube ich. Die chemischen Verbindungen sind so bitter, dass ein Vogel davon brechen müsste.«
Der Schmetterling ignorierte die Menschen. Er stieg von einer Blüte auf und ließ sich vom Wind in den blauen Ozean der Lüfte davontragen.
Er hatte den Menschen jedoch eine Lektion erteilt. Die Blüten strotzten nur so von flüssigem Zucker. Genau das, was sie brauchten. Karen King kroch mit dem Kopf voraus in eine Blüte hinein. Sie schöpfte sich einen Nektartropfen mit beiden Händen in den Mund. »Hey, Leute, das müsst ihr probieren!«, drang ihre verklebt dumpfe Stimme aus der Blüte heraus. Sie konnte direkt spüren, wie ihr Körper mit jedem Schluck Nektar neue Energie tankte.
Jetzt krochen auch die anderen in die Blüten und tranken so viel Nektar wie möglich.
Während sie sich noch den Nektar einverleibten, erregte eine Bewegung am Horizont Peters Aufmerksamkeit. »Da kommt jemand«, rief er.
Sie hörten zu trinken auf und beobachteten, wie in der Ferne ein Fahrzeug die aus Honolulu kommende Serpentinenstraße hochfuhr. Ein schwarzer Pick-up. Er brauste den letzten Aufstieg zum Taleingang hinauf und hielt am Tor vor dem Tunnel an. Jetzt stieg der Fahrer aus. Peter beobachtete die Szene mit dem Fernglas. Er sah, wie der Mann ein gelbes Schild von der Ladefläche seines Pick-ups holte und am Sicherheitstor anbrachte.
»Er hat ein Schild aufgehängt«, sagte Peter.
»Was steht drauf?«, fragte Karen.
Peter schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht erkennen.«
»Ist das der Shuttle-Lkw?«
»Warte einen Moment.«
Der Mann fuhr den Pick-up durch das Tor, das sich danach hinter ihm schloss. Augenblicke später kam er aus dem Tunnel heraus, fuhr ins Tal hinunter und hielt auf dem Parkplatz an. Nach ein paar Sekunden stieg der Mann aus.
Peter schaute immer noch durch sein Fernglas. »Ich glaube, das ist derselbe Mann, der die Versorgungsstationen ausgegraben hat. Ein muskulöser Kerl im Alohahemd. Auf dem Pick-up steht NANIGEN SECURITY.«
»Das klingt nicht nach Shuttle-Lkw«, sagte Karen.
»Nein.«
Jetzt ging der Mann auf dem Parkplatz herum, schaute immer wieder auf den Boden und tippte manchmal etwas mit seiner Schuhspitze an. Dann kniete er sich hin und fuhr mit der Hand unter einer Gruppe weißer Ingwerpflanzen hin und her.
»Er sucht den Boden am Rand des Parkplatzes ab«, sagte Peter.
»Nach uns?«, fragte Karen.
»Sieht so aus.«
»Das ist aber gar nicht gut.«
»Jetzt spricht er in sein Handfunkgerät. Oh-oh.«
»Was ist?«
»Er schaut genau in unsere Richtung.«
»Ach was, er kann uns doch gar nicht sehen«, spöttelte Karen.
»Er deutet aber auf uns. Und er spricht mit jemand über sein Funkgerät. Sieht so aus, als wüsste er, wo wir sind.«
»Das ist unmöglich«, sagte Karen.
Jetzt ging der Mann wieder zu seinem Pick-up hinüber und holte ein großes Sprühgerät von der Ladefläche, das er sich auf den Rücken schnallte. Er ging den äußeren Rand des Parkplatzes entlang und besprühte die Vegetation. Am Schluss besprühte er auch noch die Oberfläche des Parkplatzes selbst.
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