Amar schüttelte den Kopf. »Ich habe alles verbraucht, als wir Peter vor dieser Schlange gerettet haben.«
Kein Problem. Rick stöberte herum und fand eine Seilrolle. Er schnitt ein kurzes Stück ab. Dann löste er das Seilstück mit den Fingern in seine einzelnen Stränge und Fasern auf. Auf diese Weise konnte er einen Haufen starker Fäden herstellen. Er hielt etwas Füllstoff aus der Matratze ans Pfeilende und wickelte einen Faden darum herum. Damit blieb die Quaste fest an ihrem Platz. Jetzt besaß er einen perfekten Blasrohrpfeil mit einer gehärteten Spitze und einer Schwanzquaste als Befiederung. Fehlte nur noch das Gift.
Trotzdem würde es kein Wissenschaftler bei der Annahme belassen, dass dieser Pfeil wirklich funktionierte. Er musste ihn einem Test unterziehen. Ein hohler Grashalm diente ihm als Blasrohr. Rick steckte den Pfeil in das Grasrohr, zielte auf den hölzernen Rand eines Feldbetts und blies. Der Pfeil zischte durch den Raum, traf das Feldbett … und prallte ab.
»Scheiße«, murmelte er. Er wusste jetzt, dass der Pfeil Holz nicht durchdringen konnte. Das bedeutete auch, dass er niemals das Außenskelett eines Insekts durchschlagen würde.
»Test nicht bestanden«, bemerkte Karen.
»Der Pfeil braucht eine Metallspitze«, sagte Rick.
Aber wo sollte er dieses Metall finden?
Besteck! Edelstahlbesteck! Rick holte sich eine stählerne Gabel aus der Küche und bog einen ihrer Zinken nach hinten. Diesen schnitt er dann mit der Schneide eines Diamantschärfers ab und schliff ihn zu einer äußerst scharfen Spitze. Die brachte er dann an einem Graspfeil an, den er wieder auf den Bettrand schoss. Dieses Mal drang er tief in das Holz ein und blieb mit einem ermutigenden »Pock« zitternd darin stecken. »So, das sollte für einen Käfer reichen«, sagte Rick. Nacheinander schnitt er von allen Gabeln im Bunker die Zinken ab und fabrizierte mehr als zwei Dutzend Pfeile und Blasrohre. Um sie trocken zu halten und vor Beschädigungen zu schützen, legte er die Pfeile in eine Plastikbox, die er im Labor gefunden hatte.
Jetzt musste er noch die benötigte Menge Curare herstellen, aber dafür fehlten noch ein paar Inhaltsstoffe. Wie eine feine Sauce benötigte gutes Curare eine Fülle von Zutaten, eine Chemie des Schreckens, sozusagen. Im Moment hatte er nur die eine Frucht des Paternosterbaums, die er oben im Zelt gelagert hatte. Niemand wollte eine solch giftige Beere im Bunker haben. Sie könnte Ausdünstungen von sich geben, die sie alle krank machen würden. Aus demselben Grund konnte er auch auf dem Herd kein Curare kochen. Ihm fehlten sowieso die nötigen Zutaten, und selbst wenn er sie hätte, könnte er alle vergiften, wenn er versuchen würde, Curare in einem geschlossenen Raum wie diesem Bunker herzustellen. Die Dämpfe würden sie wahrscheinlich alle töten.
Er musste sein Curare also im Freien über einem offenen Feuer kochen.
Sie fanden noch einen Feldstecher und zwei weitere Stirnlampen und packten sie in die Campingrucksäcke, die sie im Bunker entdeckt hatten. Amar Singh stieß dann noch auf eine Rolle Klebeband. »Wir werden in diesem Superdschungel auf keinen Fall ohne Klebeband überleben können«, juxte er.
Rick Hutter öffnete eine Kiste und rief: »Eine Goldmine!« Dann holte er eine Laborschürze, Gummihandschuhe und eine Schutzbrille heraus. »Genau das brauche ich, um Curare herzustellen. Ausgezeichnet, ausgezeichnet!« Er stopfte die Sachen in einen Rucksack. Jetzt fehlte ihm nur noch ein Gefäß, in dem er das Gift kochen konnte. In der winzigen Küchenabteilung des Bunkers fand er ganz hinten in einem Regal einen großen Aluminiumtopf. Er band ihn an seine Campingtasche und packte diese auf den Rücken, um ihr Gewicht zu prüfen. Er war überrascht. Obwohl die Tasche riesig aussah, fühlte sie sich ganz leicht an. »Ich bin so stark wie eine Ameise«, lachte er.
Jenny Linn entdeckte in einer Vorratskiste einen alten, abgenutzten Militärkompass, wie ihn die amerikanischen Soldaten im Koreakrieg verwendet hatten. Er konnte ihnen helfen, die festgesetzte Marschrichtung einzuhalten. Keiner konnte jedoch irgendwo in der Station ein GPS-Gerät finden.
»Das hat seinen Grund: Das GPS könnte uns gar nicht anzeigen, wo wir sind«, erklärte Peter. »Ein GPS-Gerät ist auf zehn Meter genau. Bei unserer winzigen Größe würde das einer Genauigkeit von einem Kilometer entsprechen. Mit anderen Worten: Das GPS könnte unsere Position im gegenwärtigen Maßstab nur mit einer Abweichungsmarge von einem Kilometer in jeder Richtung anzeigen. Für Leute unserer Größe ist also ein Kompass viel genauer.«
Nach dem Essen und der ganzen Arbeit überkam sie jetzt alle ein großes Schlafbedürfnis. Peter sah auf die Uhr. Kurz vor Mittag.
»Lasst uns unsere Sachen später fertig packen«, schlug Karen King vor. Sie hatten zwar in der Nacht zuvor keine Sekunde geschlafen, waren es aber gewohnt, im Labor auch mal eine ganze Nacht durchzuarbeiten. Gerade Karen war auf ihre Ausdauer stolz. Jetzt jedoch fielen ihr ständig die Augen zu. Warum bin ich nur plötzlich so müde?, fragte sie sich. Vielleicht hatte es etwas mit ihren kleinen Körpern und den vielen Kalorien, die sie verbrannten, zu tun … aber sie konnte sich auf keinen Gedanken mehr konzentrieren … Sie kroch auf ein Feldbett, wo sie sofort einschlief. Sie alle schliefen jetzt tief und fest.
29. OKTOBER, 13:00 UHR
Ein neuer schwarzer Pick-up bog auf den Parkplatz vor dem Gewächshaus im Waipaka-Arboretum ein. Don Makele, der Sicherheitschef von Nanigen, stieg aus, schulterte einen Rucksack und klipste sich ein Messer an den Gürtel. Er kniete sich am Rand des Parkplatzes neben eine Gruppe weißer Ingwerpflanzen auf den Boden und zog das Messer aus der Scheide. Es war ein KA-BAR, ein Kampfmesser mit einer schwarzen Klinge, wie es die Marines bei ihren Einsätzen benutzten. Vorsichtig schob er mit der stumpfen Klingenseite die Pflanzenstängel beiseite, bis er das kleine Zelt fand. Die Versorgungsstation Alpha lag tief im Schatten der Ingwerblätter verborgen. Er beugte sich über die Pflanzen, um besser sehen zu können, und zog mit der Messerspitze die winzige Zeltklappe beiseite.
»Jemand zu Hause?«, fragte er.
Er wusste, dass er keine Antwort hören würde, selbst wenn ein Mikromensch ihm tatsächlich antworten sollte. Weit und breit waren sowieso keine Mikromenschen zu sehen. Station Alpha war bereits vor einem Monat vorläufig eingemottet worden, als das letzte dort stationierte Außenteam sie verlassen hatte.
Er stach das Messer direkt neben dem Zelt in den Boden und zog mit ihm einen Kreis um die ganze Station, wobei er die Klinge ständig vor- und zurückbewegte. Danach wuchtete er den Bunker aus der Erde, von dem jetzt kleine Dreckbrocken herunterfielen, während das Zeltdach auf der Spitze der Anlage wie in einem Sturmwind flatterte. Er stand auf und schlug mit dem Bunker auf seinen Schuh, um ihn von den letzten Klumpen zu befreien. Dann steckte er ihn in seinen Rucksack.
Don Makele holte eine Karte heraus und studierte sie aufmerksam. Der nächste Halt würde die Station Bravo sein. Er ging schnell den Pfad hinunter, der zur Farnschlucht führte. Nach etwa fünfzehn Metern verließ er den gebahnten Weg und ging ein Stück in den Wald hinein. Auch in dieser Dschungelumgebung kam er sehr schnell voran. Laut Karte lag Station Bravo auf der Südseite eines Koa-Baums, dessen Stamm markiert worden war, damit man die Station leichter finden konnte. Nach einigen Minuten kam er am richtigen Baum an. An dessen Stamm hatte man ein orangefarbenes Reflexionsschild genagelt. Er kniete sich hin, fand das Zelt und spähte hinein. Niemand da. Aber was war mit dem Bunker?
Er richtete sich auf, rief ganz laut »Hey!« und stampfte mit dem Fuß auf die Erde neben dem Zelt. Das würde sie heraustreiben, wenn sie im Bunker sein sollten. Er sah jedoch nichts, keine Bewegung und keine kleinen Gestalten, die vor ihm wegliefen. Er schnitt den Boden mit dem Messer auf, holte den Bunker heraus und legte ihn in seinen Rucksack neben Station Alpha. Er schaute noch einmal auf die Karte und blickte danach zu den Abhängen der Berge hinüber, die sich bis zu den Felsspitzen und schließlich zu den Höhen des Tantalus hinaufzogen. Es wäre Zeitverschwendung, alle Stationen ins Nanigen-Hauptquartier zurückzubringen, dachte er. Die Mikrowelt hatte die Studenten verschlungen, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen. Trotzdem musste er Drakes Anordnungen befolgen. Es machte ihm auch nichts aus, die einzige Überlebenshoffnung der Studenten zu zerstören, die waren ohnehin ganz bestimmt schon tot. Er tat nichts Unrechtes, wenn er diese Stationen abräumte.
Читать дальше
Конец ознакомительного отрывка
Купить книгу