»Wir müssen einen Plan ausarbeiten«, sagte Karen mit ruhiger Stimme.
In diesem Moment trat Amar Singh hinter einem links von ihnen liegenden Stück Holz hervor. Er war von oben bis unten mit Schlamm verschmiert und sein Hemd völlig zerrissen. Er wirkte bemerkenswert ruhig und gelassen. »Alles okay?«, fragte ihn Peter.
Er nickte mit dem Kopf.
»Der Nanigen-Mann«, sagte Peter. »Hey, Kinsky! Sind Sie hier irgendwo?«
»Schon eine ganze Weile«, antwortete Jarel Kinsky leise. Er saß mit angezogenen Beinen regungslos unter einem Blatt. Bisher hatte er nichts gesagt, sondern nur die anderen beobachtet und ihnen zugehört.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte ihn Peter.
»Sie sollten leiser reden«, sagte Kinsky und meinte dabei die ganze Gruppe. »Die können besser hören als wir.«
»Die?«, fragte Jenny.
»Die Insekten.«
Plötzlich herrschte eine große Stille.
»Schon besser«, sagte Kinsky.
Ab jetzt unterhielten sie sich im Flüsterton. Peter fragte Kinsky: »Irgendeine Ahnung, wo wir sind?«
»Ich glaube, ja«, antwortete Kinsky. »Schauen Sie dort hinüber.«
Als sie sich umdrehten, sahen sie in dieser Richtung einen entfernten Lichtschein, der durch das Laub der Bäume ganz schwach zu ihnen herüberdrang. Es war eine Lampe, die die Ecke eines hölzernen Gebäudes beleuchtete und sich in einigen Glasscheiben spiegelte.
»Das ist das Gewächshaus«, erklärte Kinsky. »Wir sind im Waipaka-Arboretum.«
»Oh Gott«, entfuhr es Jenny Linn. »Wir sind Kilometer von Nanigen entfernt!« Als sie sich auf ein Blatt niedersetzte, spürte sie, wie sich etwas unter ihren Füßen bewegte und sie immer wieder ganz leicht anstupste. Schließlich kletterte etwas Kleines ihr Bein hinauf. Sie packte es und warf es in die Dunkelheit. Es war eine Bodenmilbe, eine achtfüßige Kreatur und völlig harmlos. Sie bemerkte, dass der Boden voller winziger Organismen war, die alle ihren Geschäften nachgingen. »Die Erde unter unseren Füßen ist lebendig«, sagte sie.
Peter Jansen kniete sich hin, wischte sich einen kleinen Wurm vom Knie und wandte sich Jarel Kinsky zu: »Was wissen Sie darüber, wie es ist, in einem solchen Schrumpfzustand zu existieren?«
»Der korrekte Fachausdruck lautet ›dimensionale Änderung‹«, antwortete Kinsky. »Ich bin noch nie dimensional verändert worden. Das ist jetzt das erste Mal. Natürlich habe ich mit den Außenteams gesprochen.«
Rick Hutter mischte sich jetzt ein. »Ich würde nichts von dem glauben, was dieser Typ erzählt. Er steht immer noch loyal zu Drake.«
»Warte«, sagte Peter in ruhigem Ton. »Was sind das, diese ›Außenteams‹?«, fragte er Kinsky.
»Nanigen schickt schon seit einiger Zeit solche Teams in die Mikrowelt. Jedes Team besteht aus drei Personen«, antwortete Kinsky im Flüsterton. Er schien wirklich Angst zu haben, ein zu lautes Geräusch zu verursachen. »Sie sind dimensional verändert und wie wir im Moment 1,3 Zentimeter groß. Sie bedienen die Grabungsmaschinen und sammeln Proben. Sie leben in den Versorgungsstationen.«
»Sie meinen die kleinen Zelte, die wir neulich gesehen haben?«, fragte Jenny Linn.
»Ja. Die Teams bleiben aber nie länger als achtundvierzig Stunden hier. Wenn man länger in diesem veränderten Zustand bleibt, wird man allmählich krank.«
»Krank? Was meinen Sie damit?«, fragte Peter.
»Sie bekommen die Tensor-Krankheit«, antwortete Kinsky.
»Die Tensor-Krankheit?«
»Das ist eine Krankheit, die Menschen befällt, die dimensional verändert wurden. Die ersten Symptome zeigen sich nach etwa drei oder vier Tagen.«
»Und was passiert dann?«
»Nun, wir wissen einiges über diese Krankheit, aber nicht viel. Das Sicherheitspersonal hat am Anfang erst einmal Tiere im Tensorgenerator getestet. Zuerst haben sie Mäuse geschrumpft. Sie haben die geschrumpften Mäuse in winzigen Glaskolben gehalten und sie mit dem Mikroskop untersucht. Nach einigen Tagen sind alle Mäuse gestorben. Sie waren verblutet. Als Nächstes haben sie Kaninchen und schließlich Hunde geschrumpft. Auch diese starben an Blutungen. Nachdem man ihre normale Größe wiederhergestellt hatte, wurden sie obduziert. Dabei zeigte sich, dass selbst kleine Schnittwunden zu hohem Blutverlust geführt hatten. Außerdem wurden auch zahlreiche innere Blutungen festgestellt. Schließlich fand man heraus, dass dem Blut der Tiere Gerinnungsfaktoren fehlten. Die Tiere waren also eigentlich an Hämophilie, einer Störung der Blutgerinnung, gestorben. Wir glauben, dass die Dimensionsänderung beim Gerinnungsvorgang enzymatische Prozesse unterbricht, aber genau wissen wir das nicht. Wir wussten jetzt also, dass ein Tier eine gewisse Zeit in geschrumpftem Zustand leben konnte, wenn man es binnen einiger Tage wieder in den Normalzustand zurückversetzte. Wir sprachen von der Tensor-Krankheit, weil sie offensichtlich etwas mit dem Durchgang durch ein starkes Tensorfeld zu tun haben musste und an die Taucherkrankheit erinnerte. Wir konnten also das Fazit ziehen, dass das Tier gesund blieb, wenn es nur zeitlich begrenzt in diesem dimensional veränderten Zustand blieb.
Als Nächstes meldeten sich mehrere Freiwillige, darunter der Mann, der den Tensorgenerator entworfen hatte. Sein Name war Rourke, glaube ich. Es stellte sich heraus, dass auch Menschen einige Tage ohne schädliche Auswirkungen in dieser Mikrowelt leben konnten. Aber dann gab es einen … Unfall. Der Generator brach zusammen, und wir verloren drei Wissenschaftler. Sie waren in der Mikrowelt gefangen und konnten nicht zu ihrer normalen Größe zurückkehren. Einer der Toten war der Mann, der den Generator entwickelt hatte. Seitdem hatten wir noch weitere … Unfälle. Wenn eine Person großem Stress ausgesetzt ist oder eine größere Verletzung erleidet, kann die Tensor-Krankheit früher als gewöhnlich ganz plötzlich ausbrechen. Auf diese Weise haben wir noch … mehr … Mitarbeiter verloren. Darum hat Mr. Drake die Operationen so lange ausgesetzt, bis wir herausfinden, wie wir künftig das Sterben von Menschen in dieser Mikrowelt verhindern können. Sie sehen also, dass sich Mr. Drake wirklich um die Sicherheit seiner Mitarbeiter sorgt …«
»Und wie wirkt sich diese Krankheit bei Menschen aus?«, unterbrach ihn Rick.
Kinsky antwortete: »Es beginnt mit Blutergüssen, vor allem auf den Armen und Beinen. Wenn man sich schneidet, hört die Blutung nicht mehr auf. Wie bei der gewöhnlichen Hämophilie. Du kannst bereits aufgrund einer ganz kleinen Verletzung verbluten. So habe ich das zumindest gehört. Allerdings halten sie die näheren Einzelheiten geheim. Ich bediene ja auch nur den Generator.«
»Gibt es dafür irgendeine Behandlung?«, fragte Peter.
»Die einzige Therapie ist Dekompression. Man muss diesem Menschen so schnell wie möglich seine normale Größe wiedergeben.«
»Wir stecken in großen Schwierigkeiten …«, murmelte Danny.
»Wir müssen eine Bestandsaufname aller unserer Hilfsmittel machen«, sagte Karen entschlossen. Sie legte den Rucksack, den sie sich im Generatorraum verschafft hatte, auf ein totes Blatt. Im gedämpften Licht des Mondes schüttete sie dessen Inhalt auf dem Blatt aus, als ob dieses ein Tisch wäre, um den sich jetzt alle versammelten. Der Rucksack enthielt einen Verbandskasten, in dem sich unter anderem einige Antibiotika und Basismedikamente befanden; ein Messer; ein kurzes Stück Seil; eine Schnur, ähnlich einer Angelschnur, die an einem Gurt festgemacht war; ein Sturmfeuerzeug; eine silberne Rettungsdecke; ein dünnes wasserdichtes Zelt und eine Stirnlampe für Wasserwanderer. Außerdem gab es da noch zwei Kopfhörer mit angeschlossenem Kehlkopfmikrofon.
»Das sind Funksprechgeräte«, erklärte Kinsky. »Zur Kommunikation mit dem Hauptquartier.«
Darüber hinaus befanden sich darin eine Strickleiter sowie Schlüssel und Anlasserkontrollen für irgendeine unbekannte Art von Maschine. Karen packte alles außer der Lampe zurück in den Rucksack und zog den Reißverschluss zu.
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