Da war er ja, der rote BMW, der ebenfalls ziemlich schnell fuhr. Er ließ sich etwas zurückfallen, behielt jedoch dessen Rücklichter im Auge. Kurz darauf bog Alyson auf den H-1 Freeway ein. Der mitternachtsblaue Bentley verschmolz mit der Dunkelheit. Für sie war er jetzt nur noch eines der Scheinwerferpaare hinter ihr in diesem scheinbar unendlichen Verkehrsstrom.
Er hatte die Studenten nicht gefunden. Dafür konnte es nur einen einzigen Grund geben: Alyson hatte sie mitgenommen. Er war sich zwar nicht ganz sicher, aber sein Instinkt sagte ihm, dass es so war.
Er musste sie jetzt vielleicht ausschalten. Er konnte ihr auf keinen Fall mehr vertrauen. Die Frau hatte anscheinend die Nerven verloren. Allerdings wurde es immer komplizierter, alle diese Menschen verschwinden zu lassen. Immerhin war Alyson Bender Nanigens Finanzchefin. Wenn sie jetzt verschwände, würde das zu extrem gründlichen Ermittlungen führen.
Das wollte er auf keinen Fall. Eine Untersuchung der Firma Nanigen würde früher oder später etwas von dem aufdecken, was er getan hatte. Das war unvermeidlich. Gab man ihnen nur genug Zeit, würden sie ihm auf die Schliche kommen.
Nein, solche Ermittlungen konnte er nicht brauchen.
Er begann zu begreifen, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Er konnte es sich nicht leisten, sie zu töten – wenigstens nicht im Moment. Er musste sie noch einige Zeit auf seiner Seite halten.
Aber wie konnte er das jetzt noch bewerkstelligen?
Alyson umfuhr auf der Autobahn Pearl Harbor. Die ganze Zeit versuchte sie, nicht auf die Tüte auf dem Beifahrersitz zu schauen. Vielleicht hatte Vin recht. Vielleicht hatten sie wirklich keine andere Wahl. Sie nahm die Ausfahrt in Richtung der Innenstadt von Honolulu. Sie war sich nicht sicher, wohin sie sich wenden sollte. Sie fuhr nach Waikiki. Dort fuhr sie langsam in dichtem Verkehr die Kalakaua Avenue hinunter. Überall sah man riesige Touristenscharen, die sich in dieser Gegend einen schönen Abend machen wollten. Sie bog auf die Diamond Head Road ein und fuhr am Diamond-Head-Leuchtturm vorbei. Sie würde die Papiertüte mit zu einem Strand auf der windzugewandten Seite von Oahu oder vielleicht auch zum North Shore nehmen. Dort würde sie die Tüte irgendwo in die Brandung werfen … keine Spuren … keine Überlebenden …
Drake beobachtete immer noch ihren Wagen, ohne zu dicht aufzufahren. Sie fuhr am Makapu’u Point vorbei durch Waimanalo und Kailua. Dann drehte sie jedoch plötzlich um, nahm die nächste Autobahnauffahrt und fuhr zurück Richtung Honolulu. Wohin zum Teufel will diese Frau?, fragte er sich.
Nachdem sie um das ganze Ostende von Oahu herumgefahren war und zum zweiten Mal Honolulu durchquert hatte, folgte Alyson schließlich der Manoa Valley Road, die zu dem gleichnamigen Regenwaldtal in den Bergen hinaufführte.
Schließlich kam sie am Stahltor und dem Tunnel an. Das Tor war verschlossen. Sie tippte den Sicherheitscode ein und fuhr hindurch. Hinter dem Tunnel erreichte sie das samtdunkle Tal.
Der Ort war völlig menschenleer. Die Gewächshäuser schimmerten ganz schwach im Mondlicht. Sie öffnete ihre Tasche, holte die Tüte heraus und stieg aus dem Auto. Sie wagte es jedoch nicht, die Tüte selbst zu öffnen. Sie waren wahrscheinlich inzwischen tot, ob nun erdrückt oder erstickt. Aber wenn dem nicht so war und sie sie vielleicht anflehen würden? Das wäre noch schlimmer, als wenn sie tot wären. Sie stand auf dem Parkplatz und wusste nicht, was sie tun sollte.
Plötzlich kamen Scheinwerfer aus dem Tunnel.
Jemand war ihr gefolgt.
Sie stand da, mit der Tüte in der Hand, starr vor Schreck und geblendet von den Scheinwerfern des Firmen-Bentleys.
Kapitel 11
WAIPAKA-ARBORETUM
28. OKTOBER, 22:45 UHR
Was tust du denn hier, Alyson?«, fragte Drake, als er aus seinem Bentley ausstieg.
Sie blinzelte in das helle Scheinwerferlicht. »Warum bist du mir gefolgt?«
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Alyson. Große Sorgen.«
»Mir geht’s gut.«
»Wir haben eine Menge zu tun.« Er kam ihr immer näher.
»Und was?« Sie wich vor ihm zurück.
»Wir müssen uns schützen.«
Sie atmete tief ein. »Was hast du vor?«
Er durfte es nicht zulassen, dass man ihm die Schuld gab. Ihr ja, aber nicht ihm. Er hatte da eventuell eine Idee – einen Weg, die Sache entsprechend zu deichseln. »Es gibt einen Grund für ihr Verschwinden, weißt du?«, sagte er zu ihr.
»Was meinst du damit, Vin?«
»Einen plausiblen Grund, warum sie verschwunden sind. Einen Grund, der nichts mit dir und mir zu tun hat.«
»Und welcher sollte das sein?«
»Alkohol.«
»Was?«
Er packte sie an der Hand und zog sie zum Gewächshaus hinüber. Dabei erklärte er ihr: »Das sind arme Studenten. Sie haben kein Geld und versuchen immer zu sparen. Sie wollen Party machen und sich die Kante geben, aber sie haben kein Geld. Also, wohin gehen arme Forschungsstudenten, wenn sie sich kostenlos volllaufen lassen wollen?«
»Wohin denn?«
»Ins Labor natürlich.« Er schloss die Tür auf und schaltete die Neonlampen an der Decke des langen Laborschlauchs an. In deren Licht zeigten sich Arbeitstische voller exotischer Pflanzen und eingetopfte Orchideen, die ständig von einer Befeuchtungsanlage besprüht wurden. In der Ecke standen zahlreiche Regale voller Flaschen und Reagenzienbehälter. Er holte einen fast vier Liter fassenden Plastikbehälter heraus, auf dessen Etikett »98 % ETHANOL« stand.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Laboralkohol«, antwortete er.
»Ist das deine Idee?«
»Ja«, bestätigte er. »Wenn man Wodka oder Tequila im Laden kauft, bekommt man Getränke mit einem Alkoholgehalt von fünfunddreißig, vierzig oder fünfundvierzig Prozent. Dieses Zeug hier hat achtundneunzig Prozent, fast reiner Alkohol.«
»Und?«
Vin holte Plastikbecher aus dem Schrank und drückte sie ihr in die Hand. »Alkohol verursacht Autounfälle. Vor allem bei jungen Leuten.«
Sie stöhnte. »Uhh, Vin …«
Er schaute sie prüfend an. »Okay, nennen wir das Kind beim Namen«, sagte er. »Du hast nicht die Nerven dafür.«
»Also, nein …«
»Mir geht’s genauso. Und das ist die Wahrheit.«
Sie blinzelte verwirrt. »Wirklich?«
»Wirklich. Das Ganze geht mir gegen den Strich, Alyson. Ich möchte das gar nicht durchziehen. Ich möchte das nicht auf dem Gewissen haben.«
»Und, was machen wir jetzt?«
Mit großem schauspielerischem Geschick setzte er ein Gesicht auf, das seinen Zweifel und seine Unsicherheit ausdrücken sollte. »Ich weiß es nicht«, sagte er und schüttelte traurig den Kopf. »Wir hätten wahrscheinlich gar nicht damit anfangen dürfen, und jetzt … Ich weiß es einfach nicht.« Er hoffte, dass sein unsicherer Gesichtsausdruck überzeugend war. Er wusste, dass er überzeugend wirken konnte. Er machte eine kleine Pause, dann ergriff er die Hand, in der sie immer noch die Papiertüte trug, und hielt sie gegen das Licht. »Sie sind da drin, nicht wahr?«
»Was soll ich jetzt tun?« Ihre Hand zitterte.
»Geh nach draußen und warte dort auf mich«, sagte er. »Ich muss ein paar Minuten nachdenken. Wir müssen eine Lösung für das hier finden, Alyson. Aber auf jeden Fall darf es keine Toten mehr geben.«
Tatsächlich wollte er, dass es Alyson war, die sie töten würde. Selbst wenn sie das gar nicht mitbekam.
Sie nickte schweigend.
»Ich brauche deine Hilfe, Alyson.«
»Ich werde dir helfen, ganz bestimmt.«
»Vielen Dank.« Das kam von Herzen.
Sie ging nach draußen.
Im Gewächshaus holte er eine Schachtel mit Nitrilhandschuhen aus einem Vorratsschrank. Diese widerstandsfähigen Laborhandschuhe waren stärker als die aus Gummi. Er zog zwei von ihnen heraus und stopfte sie in die Hosentasche. Dann eilte er in einen seitlichen Büroraum und schaltete die Überwachungskamera ein, die den Parkplatz überblickte. Es war eine Nachtsichtkamera, die jetzt die Vorgänge draußen in einem eigentümlichen Grün zeigte. Natürlich wurde das Ganze auch aufgezeichnet. Er beobachtete, wie Alyson nach draußen ging und sich in die Nähe der Autos stellte.
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