Wagner warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Untersteh dich!«
»Mach dir keine Gedanken«, sagte O’Connor fröhlich. »Ich pflege selten an zwei Abenden hintereinander zu patzen. Nichts wäre schlimmer, als wenn man anfinge, mich für berechenbar zu halten.«
»Glaubst du, Paddy wird noch mal von sich hören lassen?«
»Ich hatte nicht den Eindruck.«
»Du hast ihn geschützt.«
»Ich habe versucht, mich zu wundern«, sagte O’Connor nach einer Weile des Schweigens. »Aber es klappte nicht. Mir war schon in der Personalabteilung klar, was los ist. Offen gestanden, als Paddy damals aus Dublin verschwand, gab es Gerüchte, er sei erschossen worden. Die einen reagierten mit Betroffenheit, andere fanden, es geschehe ihm ganz recht, ein bisschen tot zu sein. Nur wirklich gewundert hat sich keiner. Es war einfach jedem von uns klar, dass er auf die eine oder andere Weise eine fatale Entwicklung nehmen würde. Hinterher hieß es, er sei quicklebendig in Ulster gesehen worden, aber von da an verliert sich endgültig jede Spur von ihm.
Wie immer sein Leben seitdem verlaufen ist, es muss ihn an einen Punkt geführt haben, wo es notwendig wurde, den Namen zu wechseln und das Land zu verlassen.«
»Klingt nach ziemlich krummen Wegen.«
»Ich kann nicht beurteilen, ob Paddy in Schuld verstrickt ist. Natürlich hätte ich ihn auffliegen lassen können, aber wozu? Möglich, dass er endlich seinen Frieden gefunden hat.« O’Connor schüttelte den Kopf. »Nein, ich sage mir einfach, dass Paddy verschollen bleibt. Was Mr. O’Dea angeht, so haben wir nichts mit ihm zu schaffen.«
Als sie im Maritim anlangten, verspürte Wagner unerwartet eine merkwürdige Distanziertheit zu O’Connor. Sie erwuchs weniger dem Erlebten als dem Unausgesprochenen und der Angst, etwas könne sich zwischen sie senken und den Zustand vor letzter Nacht wiederherstellen. Mit dem Unterschied, dass ihr nun etwas fehlen würde, das sie vorher nicht vermisst hatte. Sosehr es sie drängte, ihm in sein Zimmer zu folgen und wahr werden zu lassen, was sie im Rausch des Uisge Beath zur Wahrheit erklärt hatten, so denkbar unpassend schien ihr der Moment. Sie begleitete ihn vor die Zimmertür und stand unschlüssig neben ihm, während er aufschloss.
Bleib locker, dachte sie. Es ist nichts. Wir haben keinerlei Verabredungen miteinander getroffen. Nichts, was sich vollziehen müsste.
Aber plötzlich fühlte sie sich verkrampft. Die federleichte Bereitschaft, die noch am Morgen ihr Denken beherrscht hatte, stahl sich davon und machte einem hohlen Realitätsempfinden Platz, mit dem man Träume beim Aufwachen entgleiten lässt. Mittlerweile war sie wieder nüchtern und der Kopfdruck gewichen. Mattigkeit überkam sie. Die letzten vierundzwanzig Stunden machten sich in die Unwirklichkeit davon. In diesem Moment wartete sie einfach nur an der Seite eines ungemein gut aussehenden Mannes darauf, dass dieser die Tür aufschließen und sich mit einem »Dann bis später, Frau Wagner« verabschieden würde, und es hätte sie nicht einmal erstaunt, dass er sie wieder siezte.
Alles schien so weit weg zu sein. Die Nacht. Das exzessive Trinken, die Umarmungen, die Küsse. Das Teilen von Geschichten auf O’Connors Bett, das Hinauszögern, der lustvolle Verzicht. Aber das Buch war wieder geschlossen worden, ihr gemeinsames Kapitel daraus gestrichen. Wenn sie an diesem Nachmittag mit ihm schliefe, würde sie den Traum zerstören. Die Zwanghaftigkeit der Aufeinanderfolge war schal. Sie besagte, dass im Drehbuch jetzt die Stelle kam, an der sie miteinander Sex haben würden. Sie hatten eine knappe Stunde, keiner von ihnen andere Pläne, als diese Zeit irgendwie rumzubringen. Es gab keine Paddys mehr zu suchen und keine unvorhergesehenen Besäufnisse, in die man geraten konnte. Es gab keinen Kopf mehr zu verlieren. Nichts war mehr unvorhergesehen. Hierin lag das Problem, im Logischen der Situation, in der plötzlichen Kalkulierbarkeit. Sie nahm dem Augenblick jeden Reiz.
Die Nacht hatte ein wundervolles Vielleicht hervorgebracht. Diese eine Stunde erzwang ein Ja oder Nein.
Sie betrachtete ihn von der Seite und fühlte einen Stich. Er sah phantastisch aus. Wie gern wäre sie ihm einerseits gefolgt. In dieses Zimmer, nach Dublin, nach Shannonbridge, in das nächstbeste Universum! Wie unmöglich schien es ihr hier und jetzt. War sie verrückt? Was sollte sie tun? Ginge sie nicht mit ihm, bestand die Gefahr, dass es ein Traum blieb und sie von nun an wieder auseinander drifteten, unfähig, sich ein weiteres Mal fallen zu lassen. Nichts wollte sie weniger. Aber am anderen Ende der Skala lauerte die Angst vor der Enttäuschung, dass ausgerechnet der Zauber, den die Negierung aller Regeln erzeugt hatte, in einer Konsequenz aus Schweiß und verknautschten Bettlaken enden könnte, ohne dass sich Glück einstellen wollte.
Keine der beiden Möglichkeiten gefiel ihr, und am wenigsten gefiel ihr die bleierne Hilflosigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie sah an sich herunter und kam sich vor wie ihr eigener größter Feind.
Es ist noch etwas anderes mit im Spiel, dachte sie. Etwas, das ich mir ungern eingestehe. Die Furcht, an diesem Nachmittag nicht mehr die schönste Frau der Welt zu sein.
Im herandämmernden Tag war sie es gewesen. Aber was, wenn er ebenso empfand wie sie?
Sein Zögern wäre vernichtend. Sie würde nicht einmal wissen wollen, warum er zögerte. Sie wäre nicht mehr die schönste Frau der Welt. Auch das wäre die Konsequenz, egal, wie sie sich entschied.
Diese verdammte Stunde machte alles kaputt!
O’Connor schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Er verharrte, während die Tür zu seinem Zimmer langsam aufschwang und ihren Blicken das Bett preisgab, auf dem sie für Stunden hinweggeschwebt waren. Eigentlich fehlten nur noch Scheinwerfer, Kameramänner und der Regisseur.
Kika und Liam. Action!
»Tja«, sagte sie.
Er zog ein Gesicht. »Es ist zu blöde, Kika. Ich würde dich wahnsinnig gern auf einen Schluck hereinbitten, aber es geht nicht.«
Sie stutzte.
»Ich hatte nicht vor… ich meine .«
»Sie warten auf meinen Anruf. In Dublin. Ich habe versprochen, ein paar Berechnungen anzustellen für ein Experiment, das sie im Institut durchführen wollen, und da muss ich wohl oder übel ran.«
»Aber«, sagte sie ein bisschen hilflos, »zur Lesung wirst du doch fertig sein. Oder?«
»Versprochen.« Er sah sie an. »Ich werde eine halbe Stunde lang auf meinem Laptop herumhacken und eine weitere halbe Stunde am Telefon hängen. Aber spätestens um halb sechs stehe ich Gewehr bei Fuß.« Er zögerte. »Bist du böse?«
Wagner schüttelte den Kopf.
»Nein. Überhaupt kein Problem.«
»Gut. Bevor du gehst – hast du noch einen von diesen wunderbaren Küssen übrig?« Er grinste wie die Katze, die die Nachtigall gefressen hat. »Der von heute Morgen hält nicht mehr lange vor.«
Sein Blick fing sie ein. Zog sie zu sich heran und schickte sie zugleich fort. Wagner fühlte ihre Erstarrung weichen und abfließen wie Schmelzwasser. Erst jetzt merkte sie, dass ihre ganze Muskulatur sich unmerklich verspannt hatte. Sie lächelte, ließ sich gegen ihn sinken und schloss die Augen.
Da war es wieder. Das Heißkalte.
»Habe ich dich heute Abend mal ein Stündchen für mich?«, flüsterte sie.
»Was hältst du von einer kleinen Ewigkeit?«, gab er zurück.
»Auch gut.«
Er ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten.
»Schade«, sagte er. »Aber jetzt muss ich arbeiten. Wahrscheinlich werde ich mich grauenvoll verrechnen. Ich werde Pi mit eins-komma-acht-sieben angeben und Lichtwellen im rotblonden Spektrum suchen.«
»Bis gleich«, sagte sie.
Mit jedem Schritt, den sie zurückging zu den Aufzügen, fühlte sie ihr Herz wieder fröhlicher werden.
Er hatte überhaupt keine Zeit!
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