Er stützte sich auf einen Ellbogen und hob die linke Braue. Ihren Beinen schenkte er keinen Blick.
»Ich finde immer noch, dass die Engländer Nordirland zurückgeben sollten«, sagte er. »Aber inzwischen weiß ich, dass die Engländer gar nicht das Problem sind. Die Iren sind das Problem. Die IRA stellt keine Lösung dar. Früher sah ich das etwas anders.«
»Weswegen haben sie Paddy rausgeworfen?«
»Genau deswegen.«
»Und dich?«
»Beinahe deswegen.«
Wagner reckte die Arme, legte den Kopf in den Nacken und sah an die Decke. Eigentlich fühlte sie sich ganz behaglich.
»Du bist ein Blender, Liam. Du bist der lauteste Kläffer, der mir je untergekommen ist. Wahrscheinlich haben sie dich darum nicht von der Uni geworfen, weil du keinen Mumm hattest, ihnen einen echten Grund zu liefern. Du hast ein bisschen provoziert und ein vorlautes Maul riskiert, und als es ernst wurde, bist du auf ihre Linie zurückgeschwenkt. Stimmt’s, Liam? Du hast einfach nur eine große Klappe, aber wenn es um die Konsequenzen geht, dann kneifst du.«
O’Connor erhob sich und kam über den weichen Teppichboden zu ihr herüber. Seine Schritte waren lautlos. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und sah seine Augen leuchten. Hitzewellen schienen von ihm auszugehen, oder war das nur der Alkohol?
Er ging in die Hocke und sah sie an. Seine Hände glitten durch ihr Haar. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
»Ich bin jedenfalls froh, dass du so überaus anständig und vernünftig bist«, sagte er sanft. »Da können wir wenigstens Freunde bleiben.«
»Ja, das ist prima.«
»Deine Eltern werden sich schon große Sorgen machen.«
»Bestimmt!«
»Soll ich dich nach unten bringen?«
»Sei so gut.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Sie sahen sich einfach nur an.
»Ist noch was in der Flasche?«, flüsterte sie.
»Noch ganz viel.«
»Was meinst du, wie lange es reicht?«
»Ich schätze, bis zum Frühstück.«
Sie lachte leise. Dann griff sie in seinen silbernen Schopf und zog ihn zu sich heran.
Wenige Tage nachdem ein sehr großer und schwerer Gegenstand die Grenze der Ukraine nach Polen passiert hatte und von dort nach Deutschland geleitet worden war, traf Mirko am späten Vormittag am internationalen Flughafen Scheremetjewo 2 ein. Er hatte sich nirgendwo für die Übernachtung eingemietet. Sein Aufenthalt würde nur wenige Stunden dauern, bis ihn der Flieger zurückbrachte in das Land des alten Mannes. Geduldig ließ er die umständliche Prozedur der Passkontrolle über sich ergehen, die hier immer noch in stundenlangem Schlangestehen gipfeln konnte. Er unterschrieb die übliche Zollerklärung und trat nach draußen. Sofort wurde er von mehreren illegalen Taxifahrern angesprochen. Mirko beachtete sie nicht. Er hatte einen Wagen vorbestellt, das Beste, was man tun konnte, wenn man Moskau anflog. Es war preiswerter, und man musste nicht warten.
Er war entspannt und guter Laune. Alles verlief nach Plan. Sie hatten den YAG. Die Frachtpapiere wiesen als Absender ein ukrainisches Institut aus. Adressat war eine deutsche Versuchsanstalt für Quantenforschung, wo der YAG jedoch nie angekommen war. Mittlerweile befand er sich an seinem Bestimmungsort in Köln. Die Spiegel waren im schweizerischen Chur in Arbeit, sie würden nächste
Woche eintreffen. So gut wie fertig gestellt war der riesige Pritschenwagen. Janas Verbindungsleute leisteten hervorragende Arbeit, aber natürlich wussten sie nicht, worum es ging. Sie würden das Ding selbst in die Spedition schaffen müssen, so wie sie selbst auch die fünfundzwanzig Meter Eisenbahnschienen dort verlegt hatten. Es war kein Pappenstiel gewesen, aber dafür hatten sie nun alles, was sie brauchten.
Mirko nahm auf der Rückbank des Wagens Platz und widmete sich einer Zeitung.
Die knapp dreißig Kilometer bis zum Stadtzentrum zogen sich hin. Es war einer jener Moskauer Tage, die man aus Fernsehbildern kannte und die der Stadt nicht gerecht wurden. Der Himmel wies sich durch keine spezifische Struktur aus. Er war von einem diffusen Weißgrau, aus dem stecknadeldünne Eiskristalle wehten. Es lag Schnee, nicht genug, dass es für romantische Anwandlungen gereicht hätte, sondern eben so viel, um den Eindruck der Trostlosigkeit zu steigern. In der äußeren Peripherie passierten sie endlose Reihen grauer Wohnsilos. Alle Farbe schien aus der Welt gewichen zu sein. Wer zu Fuß unterwegs war, eilte über die Schneefelder als flüchtiger Schatten, den Kopf gesenkt, konturlos.
Die Innenstadt bot ein anderes Bild. Mirko besaß keine nennenswerte kulturelle Bildung. Er konnte die Baustile nicht zuordnen, aber er mochte das Gemisch aus Konstruktivismus, Stalins Monumentalstil, barocken Elementen und Moderne. Moskau war eine gewaltige, beeindruckende Stadt. Doch auch hier schienen die Menschen nur widerwillig ihre Häuser verlassen zu haben. Der Verkehr war dicht und aggressiv. Etwas Unfrohes lastete auf der Metropole. Die Depression, die Wirtschaftskrise, die Willkür eines Cholerikers, dem die Kontrolle längst entglitten war, das Schattenimperium der Geschäftemacher, Tschetschenien, das Ultimatum der Nato, Serbien zu bombardieren, und das Gefühl tiefster Demütigung.
An jeder Ecke sah Mirko, was das Land bewegte. Russlands offenkundige Friedensliebe und der Protest gegen den angekündigten Einsatz der Nato kaschierte nur schlecht die wahren Hintergründe des Protests, das Misstrauen gegen Amerika und seine Verbündeten, die Angst, überrannt zu werden, nichts mehr zu gelten, die Furcht vor der Okkupation und dem endgültigen Aus. Dass die demokratischen Kräfte im Land vor einem militärischen Eingreifen der Nato warnten, weil sie befürchteten, den konservativen Falken werde damit Nahrung gegeben, und dass sie um die Reformen fürchteten, verhallte mehr oder weniger ungehört. Was blieb, waren Zorn und Katzenjammer und eine gefährliche Saat, falls die Nato ihre Drohung wahr machen würde.
Russland verging an der Fäulnis eines gewaltigen Minderwertigkeitskomplexes, der von der russischen Seele Besitz ergriffen hatte, Leid und Hass erzeugte und alte Gespenster wachrief. Die Ereignisse um das Kosovo schürten die Ressentiments gegen den Westen und speziell gegen die USA, die schon länger schwelten, und ließen offene Feindschaft aufflammen. Eine Art instinktiver Panslawismus hatte von der Gesellschaft Besitz ergriffen, eine angeblich traditionelle Sympathie für das Brudervolk der Serben. Dass man sich unter Stalin und Tito alles andere als freundlich gegenübergestanden hatte, schien vergessen. Bei näherer Betrachtung erwies sich Russlands Haltung gegen den Westen und die Nato eher als Reaktion auf die Probleme im eigenen Land und als Versuch, von der Krise abzulenken, die Jelzin den Menschen guten Glaubens eingebrockt hatte. Aber eben diese Menschen interessierte das wenig, und die politische Kaste, die in Tschetschenien ihr russisches Vietnam erlebt hatte, träumte hinter mehr als einer Tür von globaler Verantwortung und der verlorenen Rolle einer Supermacht. Für die meisten hatte der Zerfall des Sowjetreichs letztlich nur das Ende einer relativ stabilen und sorglosen Existenz bedeutet. In Russland regierte Zar Boris gegen eine schleichende Nostalgie an, und die Falken wetzten ihre Schnäbel.
In Europa loderte eine Lunte.
Das Taxi ließ den Alexanderpark mit dem Kreml links liegen, überquerte die Moskwa und fuhr Mirko ins beschauliche Stadtviertel Samoskworetschje. Vieles hier war von der Erneuerungswut der Dreißiger unberührt geblieben. Mirko nahm im Ubabuschki, einem der besseren Moskauer Restaurants, eine leichte Mahlzeit zu sich. Eine Dreiviertelstunde später holte ihn der Fahrer wieder ab, und sie folgten der Hauptstraße, bis sie in ein wenig gut beleumundetes Viertel gelangten. Mirko stieg aus und bedeutete dem Fahrer zu warten. Er ging in eine Seitenstraße, folgte ihrem Verlauf und bog in eine schmale Gasse ein.
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