»Nicht ganz zweieinhalb Stunden«, sagte Gruschkow zu Jana. »Etwas weniger.«
Er war soeben in der Spedition erschienen, frisch und ausgeruht. Bei dieser Gelegenheit sah er zum ersten Mal den angeketteten Lektor. Er verzog das Gesicht und nahm Jana beiseite.
»Was wollen wir noch mit dem?«, fragte er.
»Wir müssen ihn nicht töten«, entgegnete Jana. »Wir müssen ja nicht jeden gleich umbringen.«
»Dafür haben Sie den Penner vor vier Monaten ziemlich gründlich abserviert. Woher die plötzlichen Skrupel?«
»Der Penner musste sein. Wir brauchten einen Test am Objekt.«
Jana sah hinüber zu dem zusammengesunkenen Lektor. Er wirkte müde und deprimiert. Aus der Entfernung sah es aus, als döse er, aber sie wusste, dass er jede Kleinigkeit um sich herum mit nervöser Aufmerksamkeit verfolgte.
»Er ist nicht dumm«, sagte sie. »Ich dachte, er sei ein Feigling, aber er hat eigentlich nur Angst vor seiner eigenen Courage. Dafür was auf dem Kasten. Ich weiß nicht, ob wir ihn noch brauchen.«
Gruschkow verzog die Mundwinkel.
»Sie wissen sehr genau, dass wir ihn nicht mehr brauchen. Sie wollen ihn nicht töten, das ist alles. Na ja. Sie sind der Boss. Gehen wir an die Arbeit.«
Er richtete eine Fernbedienung auf die Längsseite der Halle, die zum Hof hin lag. Ein metallisches Rasseln erklang, als sich die Hälften des großen Tores in Bewegung setzten und auseinander glitten.
Tageslicht fiel herein und überschwemmte die trübkalte Neonatmosphäre. Ein leichter Wind drang ins Innere. Aus einem postkartenblauen Himmel brannte die heiße Junisonne herunter. Mit Blick ins Freie sah man nun auch, dass sich die Schienen, auf denen der YAG ruhte, bis weit in den Hof hinein erstreckten und kurz vor der Mauer endeten.
Gruschkow nickte hochzufrieden.
»Könnte nicht besser sein.« Er trat hinaus ins Sonnenlicht und schaute aus verengten Lidern in den Himmel. Dann drehte er sich zu Jana um.
»In Ordnung«, rief er. »Fahren Sie das Ding ab.«
Jana trat zu der Schaltkonsole, die am rückwärtigen Ende des YAG aus dem Boden wuchs. Die Oberfläche teilten sich ein dicker grüner und ein ebensolcher roter Knopf. Sie drückte den grünen Knopf und richtete den Blick auf den YAG.
Ein Generator sprang summend an. Mit kaum wahrnehmbarem Ruckeln setzte sich die zwölf Meter lange und fast ebenso tiefe Konstruktion aus aneinander geschweißten Pritschenwagen mit dem riesigen Kasten und den beiden Starkstromaggregaten darauf in Bewegung. Die quer gestellten Räder glänzten schwarz von Öl. Sie rollten beinahe lautlos über die Schienen. Ohne jede Erschütterung glitt das monströse Gebilde aus dem Halleninnern ins Freie und näherte sich der Mauer. Reflexe von Sonnenlicht huschten über den stählernen Mantel des YAG und blendeten Jana.
Gruschkow lief vor dem Wagen her und hob die Hand.
»Einen Augenblick noch… jetzt gleich… und stopp!«
Jana presste den Handballen auf den roten Knopf. Das Summen des Generators erstarb. Draußen wurde die Konstruktion langsamer und passierte einen Mechanismus in den Schienen. Haken sprangen hervor und klinkten sich in die Räder ein, zogen das Pritschengebilde wenige Zentimeter weiter und stoppten es an einer präzise berechneten Stelle ab. Eiserne Manschetten drückten sich von beiden Seiten gegen die Räder und arretierten sie.
Der YAG hatte seine Position erreicht. Um ihn jetzt noch aus seiner Lage zu verschieben, und wäre es nur um Millimeter gegangen, hätte es eines mittelstarken Erdbebens bedurft.
Gruschkow rannte um die Pritschen herum zu einem knapp drei Meter hohen Holzgebilde von annähernd zwei Quadratmetern Grundfläche. Bei flüchtiger Betrachtung hätte man das Ding für ein Toilettenhäuschen halten können. Er machte sich an den Kanten zu schaffen und löste mehrere Verschlüsse. Nacheinander packte er die holzgezimmerten Wände und ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten. Übrig blieb ein nach allen Seiten offenes Gestänge, in dessen Zentrum ein silbriger Dreifuß sichtbar wurde, das exakte Pendant zu dem in der Halle. An seiner Spitze, in Höhe des Lochs in der Schmalseite des Kastens und mit vier Metern Abstand dazu, schimmerte bläulich eine runde, spiegelnde Fläche von dreiunddreißig Zentimetern Durchmesser. Sie ruhte auf einem doppelt handbreiten Metallgehäuse, im Fünfundvierzig-Grad-Winkel gekippt, so dass sie den Himmel reflektierte oder die Öffnung in dem Kasten, je nachdem, von welcher Seite man hineinschaute.
Jana ging mit langsamen Schritten aus der Halle zu Gruschkow und trat zwischen den Dreifuß und den Pritschenwagen.
»Wann starten wir die Generatoren?«, fragte sie.
»In fünf Minuten«, sagte Gruschkow gelassen. »Das reicht. Wir werden ausreichend Leistung haben.«
Sie trat bis dicht vor das Loch in der Ummantelung des YAG. Es war ziemlich genau in Höhe ihres Kopfes. Mit einem eigenartigen Gefühl sah sie hinein und gewahrte in der Dunkelheit das schimmernde Auge des Spiegelteleskops. Sein Durchmesser war nur um ein Weniges geringer als der des Spiegels auf dem Dreifuß.
Sie dachte an den Penner.
»Ich werde gleich noch die Schraubfüße an der Pritschenkonstruktion justieren«, sagte Gruschkow. »Möglicherweise fehlen uns in der Höhe ein, zwei Millimeter. Es ist zwar Erbsenzählerei, aber wir wollen ja im letzten Moment nicht schlampen.« Er sah sie an. »Und? Lampenfieber?«
»Unbekannt. Wann checken wir die Kamera durch?«
»Jetzt. Kommen Sie, wir gehen wieder rein.«
Sie gingen die Schienen entlang zurück in die Halle. Jetzt, wo der YAG nicht mehr darin stand, wirkte sie ungleich größer. Der Lektor an seinem Rohr schien auf die Größe eines Insekts geschrumpft zu sein. Er hatte den Blick an Jana und Gruschkow vorbei nach draußen gerichtet. Jana konnte die Faszination in seinen Augen sehen, die sich zu der Angst und der Niedergeschlagenheit addierte.
Unter anderen Umständen hätte er ihr leid getan. Sonja wäre vor Mitleid vergangen.
Sie betraten den Computerraum. Jedes Mal schien es Jana, als seien neue Rechner und Fernsehschirme aus den Tischen gewachsen. In den Regalen türmten sich Ordner und Stapel säuberlich geschichteter Ausdrucke. Überall erblickte man technische Gerätschaften. Jana trat zu einem der Arbeitstische und ergriff die Nikon, mit der sie bereits auf den Penner gezielt hatte.
Gruschkow schaltete eine Reihe der Geräte ein. Jana richtete die Kamera auf ihn und schaute durch den Sucher.
»Perfekt«, sagte sie.
Von Gruschkow war im Sucher nichts zu sehen. Überhaupt zeigte ihr die Nikon nichts von dem Raum, in dem sie sich aufhielten. Stattdessen sah sie einen Ausschnitt der Halle, ein Stück Wand und einen Teil der Decke. Ihre Finger umfassten den vorderen Ring des Teleobjektivs und drehten ihn langsam.
Draußen in der Halle bewegte sich zeitgleich das Objektiv unter der Decke und übermittelte digitalisierte Informationen in die Nikon. Sie drehte weiter an dem Ring und sah den Lektor im Sichtfenster erscheinen.
Sie zoomte. Der Lektor wurde größer, bis seine Schläfe den Ausschnitt des Suchers vollständig einnahm.
Jana setzte die Kamera ab. Versuchsweise drückte sie gegen den kleinen Hebel, der das Fach für die Batterien öffnete. Beim Standardmodell ließ er sich nach rechts verschieben, und die Batterienklappe öffnete sich. Die umgebaute Version hielt eine Variante bereit. Jana bewegt den Hebel leicht nach links. Aus dem Boden der Kamera schob sich ein dünnes Plättchen von der Größe einer halben Briefmarke und fiel zu Boden.
»Alles wie gehabt«, sagte Gruschkow. »Flutscht raus wie ein Neugeborenes.«
Das Plättchen war ein Mikrochip auf einem Siliziumträger. Einmal im Innern der Nikon installiert, blockierte er die üblichen Funktionen und verwandelte sie stattdessen in eine Steuereinheit, die mit einer Kamera in etwa so viel zu tun hatte wie ein Präzisionsgewehr mit einer Kinderschleuder. Mit Hilfe des Chips konnte die Nikon ein anderswo installiertes bewegliches Objektiv wie das in der Halle fernsteuern. Und mehr noch. Was dieses Objektiv sah, wo auch immer es sich befand, erschien im Sucher. Hatte die Fernsteuerung das Ziel fokussiert, musste Jana nur noch den Auslöser drücken.
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