Obwohl es nun schon seit fünf Jahren seine Arbeitsstätte war, hatte Leo sich in der Lubjanka, dem MGB-Hauptquartier für Innere Angelegenheiten, nie wohl gefühlt. Eine zwanglose Unterhaltung war hier unmöglich. Alle waren stets auf der Hut. Wenn man bedachte, in welchem Gewerbe sie sich tummelten, war das nicht weiter verwunderlich, aber Leo kam es so vor, als strahle schon das Gebäude selbst etwas aus, das die Leute verunsicherte, so als sei die Angst fester Bestandteil der Architektur. Theoretisch wusste er, dass das Blödsinn war, weil der Bau ja aus vorrevolutionärer Zeit stammte und ein ganz normales Versicherungsbüro beherbergt hatte, bevor er vom sowjetischen Geheimdienst requiriert worden war. Trotzdem fragte er sich, ob es wirklich bloßer Zufall war, dass sie ausgerechnet hier gelandet waren, in einem Gebäude, das einen schon durch seine schieren Proportionen - weder hoch noch niedrig, weder breit noch schmal, irgendwie ein seltsames Mittelding - einschüchterte. Die Fassade erweckte den Eindruck totaler Überwachung: Dicht an dicht standen die Fenster, eine Reihe über der anderen, und über allem eine einsame weiße Uhr, die über die Stadt wachte wie ein schimmerndes Auge. Um das Gebäude herum schien eine unsichtbare Grenze zu verlaufen, denn Passanten hielten stets gehörigen Abstand, als fürchteten sie, hineingezerrt zu werden. Wer diese Grenze übertrat, war entweder hier angestellt oder verdammt. Innerhalb dieser Mauern war es unmöglich, für unschuldig befunden zu werden. Es war ein Verurteilungs-Fließband. Vielleicht hatte man beim Bau der Lubjanka die Angst nicht im Sinn gehabt, aber die Angst hatte sich ihrer bemächtigt. Die Angst hatte dieses frühere Versicherungsgebäude zu ihrem Zuhause, ihrer Botschaft gemacht.
Leo zeigte seinen Dienstausweis vor. Dieser erlaubte ihm nicht nur, das Gebäude zu betreten, sondern vor allem auch, es wieder zu verlassen. Männer und Frauen, die ohne einen solchen Ausweis durch diese Pforte kamen, wurden oft nie mehr wiedergesehen. Das System brachte sie in die Gulags oder vielleicht auch in ein anderes Haus, das direkt hinter diesem an der Warsonof-jewski-Gasse lag. Auch dies war ein Gebäude der Staatssicherheit, mit abgeschrägten Fußböden, holzverkleideten Wänden, die die Kugeln abfingen, und Schläuchen, mit denen man die Bäche von Blut wegspritzen konnte. Was die Hinrichtungsrate betraf, so kannte Leo keine genauen Zahlen, aber sie war hoch, mehrere 1oo am Tag. Bei solchen Mengen spielten praktische Erwägungen (wie einfach und schnell man zum Beispiel saubermachen konnte) durchaus eine Rolle.
Als er den Korridor entlangging, fragte Leo sich, wie es wäre, wenn man in den Keller hinabgeführt würde - ohne jegliche Berufung und ohne jemanden, an den man sich dafür wenden konnte. Das Strafrechtssystem wurde bei Bedarf vollkommen umgangen. Leo wusste von Gefangenen, die man wochenlang einfach dort liegen gelassen hatte, und von Ärzten, deren einzige Aufgabe die Schmerzforschung war. Er redete sich ein, dass diese Dinge ja kein Selbstzweck waren. Es gab sie aus guten Gründen, im Interesse einer höheren Sache. Es gab sie, um Angst zu verbreiten. Angst war wichtig. Ohne das Instrument der Angst wäre Lenin untergegangen. Und auch Stalin. Warum sonst wurden die Gerüchte über dieses Gebäude von MGB-Kadern bewusst gestreut, strategisch in der Metro und der Tram herumgeflüstert, als ob man die Bevölkerung mit einem Virus infizieren wollte? Die Angst wurde kultiviert. Angst war ein Teil seiner Arbeit. Und damit man ein solches Niveau an Angst aufrechterhalten konnte, brauchte es einen stetigen Nachschub an Menschen, die man ihr zum Fraß vorwarf.
Die Lubjanka war nicht das einzige gefürchtete Gebäude. Da gab es das Butyrka-Gefängnis mit seinen hohen Türmen und verwahrlosten Flügeln voller enger Zellen, in denen die Insassen mit Streichhölzern spielten, während sie darauf warteten, in die Arbeitslager deportiert zu werden. Oder das Lefortowo-Gefängnis, wohin Kriminelle gebracht wurden, gegen die man gerade ermittelte. Ihre Schreie waren bis auf die benachbarten Straßen zu hören. Trotzdem wusste Leo, dass die Lubjanka im Kopf der Leute einen besonderen Platz einnahm. Sie stand für den Ort, an dem jene abgeurteilt wurden, die sich der antisowjetischen Agitation, konterrevolutionärer Umtriebe und der Spionage schuldig gemacht hatten. Warum war es gerade diese Kategorie von Gefangenen, die den Leuten eine derartige Furcht einflößte? Ganz einfach: Jeder konnte sich beruhigt sagen, dass er niemals stehlen und nie jemanden vergewaltigen oder umbringen würde. Aber niemand konnte sich je sicher sein, ob er nicht der antisowjetischen Agitation, konterrevolutionärer Umtriebe oder der Spionage schuldig war, weil niemand, Leo eingeschlossen, sich genau darüber im Klaren war, worin diese Verbrechen eigentlich bestanden. In den 140 Artikeln des Gesetzbuches gab es nur einen einzigen Passus dazu, der Leo anleitete - den Abschnitt eines Paragraphen, der einen politischen Gefangenen als jemanden definierte, der aktiv verwickelt war in: umstürzlerische, subversive oder auf die Schwächung des sowjetischen Staates gerichtete Aktivitäten.
Das war alles. Ein dehnbarer Begriff, der auf jeden vom höchsten Parteifunktionär über die Balletttänzerin und den Musiker bis hinunter zum Schuster in Rente angewandt werden konnte. Nicht einmal jene, die im Innern der Lubjanka arbeiteten und die Maschinerie der Angst am Laufen hielten, konnten sich sicher sein, dass das Gebäude, in dem sie beschäftigt waren, nicht eines Tages auch sie verschlingen würde.
Obwohl Leo drinnen war, trug er immer noch all seine Sachen, einschließlich der Lederhandschuhe und eines langen Wollman-tels. Ihn fröstelte. Wenn er still stehen blieb, schien der Boden zu schwanken. Manchmal wurde ihm urplötzlich für Sekunden schwindelig. Er fühlte sich, als würde er jeden Moment umfallen. Seit zwei Tagen hatte er nichts mehr zu sich genommen, schon beim bloßen Gedanken an Essen wurde ihm übel. Trotzdem wies er stur jeden Gedanken daran zurück, dass er krank sein könnte. Vielleicht eine kleine Erkältung, vielleicht übermüdet, aber das würde vorbeigehen. Der übliche Kollaps, wenn die Amphetamine nachließen. Alles, was er brauchte, war ein bisschen Schlaf. Unmöglich konnte er sich einen Tag frei nehmen. Nicht heute, nicht, wenn Anatoli Brodskys Verhör anstand.
Verhöre gehörten streng genommen gar nicht zu seinen Aufgaben. Dafür hatte der MGB Spezialisten, die nichts anderes taten, als von Zelle zu Zelle zu gehen, die Gefangenen zu verhören und ihnen - mit einer Mischung aus professioneller Gleichgültigkeit und persönlichem Stolz - Geständnisse abzupressen. Wie die meisten Angestellten wurden sie motiviert von der Aussicht auf einen erfolgsabhängigen Bonus, der gewährt wurde, wenn der Verdächtige umgehend und ohne Zusätze sein Geständnis unterschrieb. Ein wenig wusste Leo über ihre Methoden, aber persönlich kannte er keinen von ihnen. Die Verhörspezialisten waren eine verschworene Gemeinschaft, sie arbeiteten als Gruppe zusammen, teilten sich oft dieselben Verdächtigen und bündelten ihre jeweiligen Talente, um die Standhafteren aus allen Richtungen zu attackieren. Brutalität, Wortgewandtheit, Charme - all diese Vorzüge konnte man gebrauchen. Auch außerhalb der Arbeit blieben diese Männer und Frauen unter sich, aßen zusammen, tranken zusammen, gingen zusammen spazieren und tauschten untereinander Geschichten und Verhörmethoden aus. Obwohl sie so wie du und ich aussahen, konnte Leo sie trotzdem ziemlich mühelos erkennen. Viele ihrer extremeren Operationen spielten sich ausschließlich im Keller ab, wo sie Dinge wie die Zufuhr von Wärme und Licht kontrollieren konnten.
Leos Aufgabe als Ermittler bedeutete hingegen, dass er die meiste Zeit entweder oben im Gebäude oder draußen verbrachte. Der Keller war eine Welt, in die er nur selten hinabstieg, eine Welt, vor der er die Augen verschloss, eine Welt, die er am liebsten unter seinen Füßen ließ.
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