Gratschew hielt inne und musterte Leo. »War das nicht auch Ihr Eindruck?«
»Genau das ist mir in den Sinn gekommen.«
Gratschew reichte ihm die Hand. »Sie haben Ihrem Land einen außergewöhnlichen Dienst erwiesen. Ich bin angewiesen worden, Ihnen eine Beförderung anzubieten. Eine höhere Position in den Organen der Staatssicherheit, und die führt üblicherweise unweigerlich in die Politik, sollten Sie danach streben. Es sind neue Zeiten angebrochen, Leo. Unser Generalsekretär Chruschtschow sieht die Probleme, auf die Sie bei Ihren Ermittlungen gestoßen sind, als Teil der unverzeihlichen Exzesse während der stalinisti-schen Herrschaft an. Ihre Frau ist mittlerweile aus der Haft entlassen worden. Dadurch, dass sie Ihnen dabei geholfen hat, diese ausländische Kampagne aufzudecken, sind alle Fragen hinsichtlich ihrer Loyalität beantwortet. Ihrer beider Akten werden von jedem Makel befreit werden. Ihre Eltern werden ihre Wohnung zurückerhalten, und sollte die nicht zur Verfügung stehen, wird man ihnen eine bessere geben.«
Leo schwieg.
»Haben Sie gar nichts zu sagen?«
»Das ist ein sehr großzügiges Angebot. Ich fühle mich geehrt. Ich denke, Sie wissen, dass es mir bei dem, was ich getan habe, nicht um Beförderung oder Macht gegangen ist. Mir war einfach klar, dass dies ein Ende haben musste.«
»Das weiß ich.«
»Trotzdem bitte ich um Ihre Erlaubnis, Ihr Angebot auszuschlagen. Stattdessen möchte ich eine Bitte vorbringen.«
»Fahren Sie fort.«
»Ich möchte gern in Moskau ein Morddezernat leiten. Und wenn es so ein Dezernat noch nicht gibt, würde ich es gerne aufbauen.«
»Wofür braucht man ein solches Dezernat?«
»Wie Sie schon selbst gesagt haben, könnten Morde als Waffe gegen unsere Gesellschaft eingesetzt werden. Wenn der Feind seine Propaganda nicht mehr über die konventionellen Kanäle verbreiten kann, lässt er sich etwas Neues einfallen. Ich glaube, dass die Kriminalität sich zur neuen Front in unserer Auseinandersetzung mit dem Westen entwickeln wird. Durch so etwas werden sie versuchen, den harmonischen Charakter unserer Gesellschaft zu unterminieren. Und wenn das geschieht, würde ich gern dagegen vorgehen.«
»Fahren Sie fort.«
»Ich bitte darum, dass General Nesterow nach Moskau versetzt wird. Mir wäre es lieb, wenn er mit mir in dieser neuen Abteilung arbeitet.«
Gratschew dachte über Leos Ansinnen nach und nickte ernst.
***
Raisa wartete draußen und betrachtete die Dscherschinski-Statue. Leo verließ das Gebäude und nahm ihre Hand, eine unverfrorene Zuneigungsbekundung, die zweifellos von allen beobachtet wurde, die aus der Lubjanka hinausstarrten. Ihnen war es egal. Ihnen konnte nichts geschehen, jedenfalls im Moment nicht, und das reichte ihnen. Auf mehr konnte man ohnehin nicht hoffen. Leo warf einen Blick hinauf zur Dscherschinski-Statue, und ihm fiel auf, dass er sich nicht an einen einzigen Satz mehr erinnern konnte, den dieser Mann je von sich gegeben hatte.
Eine Woche danach
25. Juli
Leo und Raisa saßen im Büro des Direktors von Waisenhaus Nr. 12, das nicht weit vom Zoo entfernt lag. Leo warf seiner Frau einen Seitenblick zu und fragte: »Warum dauert das so lange?«
»Ich weiß es nicht.«
»Da stimmt doch was nicht.«
Raisa schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.« »Der Direktor mochte uns nicht gerade besonders.«
»Ich fand ihn ganz nett.«
»Aber was hat er von uns gehalten?«
»Keine Ahnung.«
»Glaubst du, wir haben ihm gefallen?«
»Es spielt doch gar keine Rolle, was er denkt. Entscheidend ist, was wir denken.«
Unruhig stand Leo auf. »Aber er muss es doch absegnen.«
»Er wird die Papiere schon unterschreiben. Das ist nicht das Problem.«
Leo setzte sich wieder hin. »Du hast recht. Ich bin nervös.«
»Ich auch.«
»Wie sehe ich aus?«
»Gut.«
»Nicht zu förmlich?«
»Entspann dich, Leo.«
Die Tür ging auf, und der Direktor, ein Mann in den Vierzigern, kam herein. »Ich habe sie gefunden.«
Leo fragte sich, ob das nur Geschwafel war, oder ob er tatsächlich das ganze Gebäude abgesucht hatte, ohne zu wissen, wo die beiden steckten. Der Direktor trat zur Seite. Hinter ihm standen zwei kleine Mädchen, Soja und Elena, die Töchter von Michail Zi-nowjew. Einige Monate waren vergangen, seit sie vor ihrem eigenen Haus die Hinrichtung ihrer Eltern miterlebt hatten. Seitdem hatte sich der körperliche Zustand der Mädchen dramatisch verändert. Sie hatten an Gewicht verloren, und ihre Haut war blass geworden. Elena, der Jüngeren, die erst vier Jahre alt war, hatte man den Kopf geschoren. Soja, die Ältere, die schon zehn war, hatte ganz kurz geschnittene Haare. Ganz offensichtlich hatten sie beide Läuse gehabt.
Leo stand auf, und Raisa folgte seinem Beispiel. Er wandte sich an den Direktor. »Könnten wir sie einen Moment allein sprechen?«
Dem Direktor behagte diese Bitte zwar nicht, aber er tat ihnen den Gefallen und zog sich zurück. Die beiden Mädchen standen mit dem Rücken zur Tür, so weit weg von ihnen wie möglich.
»Hallo, Soja und Elena. Ich heiße Leo. Wisst ihr, wer ich bin?«
Keine Antwort. Unbewegte Gesichter. Die Augen aber waren wachsam, sie rechneten mit Gefahr. Soja nahm die Hand ihrer kleinen Schwester.
»Das ist Raisa. Sie ist Lehrerin.«
»Guten Tag, Soja. Hallo, Elena. Setzt euch doch zu uns. Im Sitzen redet es sich viel bequemer.«
Leo nahm zwei Stühle und stellte sie neben die Mädchen. Sie zögerten zwar, sich von der Tür wegzubewegen, setzten sich dann aber doch. Dabei hielten sie sich immer noch an den Händen und sagten keinen Ton.
Leo und Raisa kauerten sich so tief hin, dass sie zu den beiden aufschauen mussten. Die Fingernägel der Mädchen waren pechschwarz, aber ansonsten waren ihre Hände sauber. Offensichtlich hatte man sie vor dem Zusammentreffen noch rasch aufpoliert.
Leo begann. »Meine Frau und ich möchten euch ein Zuhause anbieten. Euer Zuhause.«
»Mein Mann hat mir erzählt, warum ihr hier seid. Es tut mir leid, wenn es euch aufWühlt, darüber zu reden, aber wir müssen etwas Wichtiges mit euch besprechen.«
Leo war verstört. Er hatte zwar versucht, den Mord an den Eltern der Mädchen zu verhindern, aber er hatte es nicht geschafft. Vielleicht sahen sie keinen Unterschied zwischen ihm und Wassili! Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.
»Vielleicht denkt ihr, dass es euren Eltern gegenüber treulos wäre, wenn ihr bei uns wohnt. Aber ich glaube, gerade eure Eltern würden das Beste für euch wollen. Und wie das Leben im Waisenhaus ist, wisst ihr ja nach den vier Monaten hier selbst am besten.«
Raisa sprach für ihn weiter. »Wir verlangen euch eine schwierige Entscheidung ab. Ihr seid beide noch klein. Leider müssen Kinder manchmal schon Entscheidungen treffen wie Erwachsene. Wenn ihr hier bleibt, dann wird euer Leben schwer, und später wird es wahrscheinlich auch nicht leichter.«
»Meine Frau und ich wollen eure Beschützer sein. Wir möchten uns um euch kümmern, euch zu essen und ein Zuhause geben!«, unterbrach Leo sie.
Lächelnd erklärte Raisa weiter: »Wir erwarten keine Gegenleistung. Ihr braucht uns nicht zu lieben. Ihr müsst uns noch nicht einmal unbedingt mögen, obwohl wir natürlich hoffen, dass ihr das irgendwann doch tut. Benutzt uns einfach, um hier herauszukommen.«
Leo nahm an, die Kinder würden ablehnen, deshalb fügte er hinzu: »Wenn ihr nein sagt, dann werden wir versuchen, eine Familie für euch zu finden, die nichts mit eurer Vergangenheit zu tun hat. Wenn euch das lieber wäre, könnt ihr uns das ruhig sagen. Soja, Elena, was passiert ist, kann ich leider nicht mehr rückgängig machen. Aber wir können euch eine bessere Zukunft bieten. So bleibt ihr zusammen und bekommt euer eigenes Zimmer.
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