»Nein.«
»Welche hast du zuerst gefunden?«
»Die von Larissa Petrowa. In Wualsk.«
»Ein junges Mädchen. Ich erinnere mich an sie.«
»Und auch an Arkadi? In Moskau?«
»In Moskau gab es mehrere.«
Mehrere. Er führte das Wort im Mund, als sei das gar nichts. Wenn es mehrere gegeben hatte, dann hatte man sie alle vertuscht.
»Er wurde dieses Jahr im Februar ermordet, auf den Gleisen.«
»Ein kleiner Junge?«
»Er war vier.«
»An den kann ich mich auch erinnern. Da hatte ich meine Methode schon verfeinert. Und trotzdem hast du immer noch nicht gewusst, dass ich es war? Die frühen Morde waren nicht so klar, da war ich noch nervös. Ich durfte ja auch nicht zu eindeutig sein, du verstehst schon. Ich musste etwas machen, das nur du wiedererkennen würdest. Ich konnte ja schlecht einfach meinen Namen hinterlassen. Ich habe sozusagen mit dir kommuniziert, und zwar ausschließlich mit dir.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Mein Bruder, ich habe nie geglaubt, dass du tot bist. Ich wusste immer, du bist am Leben. Und mein ganzes Leben lang hatte ich nur einen Wunsch, ein Ziel: dich zurückzubekommen.«
Lag da Wut in Andrejs Stimme? Oder Zuneigung? Vielleicht sogar beides zusammen? War es sein einziges Ziel gewesen, Leo zurückzubekommen, oder hatte er sich an ihm rächen wollen? Andrej lächelte. Es war ein warmherziges Lächeln, offen und ehrlich. So als hätte er gerade beim Kartenspiel gewonnen.
»In einer Sache hatte dein dummer, tollpatschiger Bruder dann doch recht. Nämlich was dich betraf. Ich habe versucht, Mutter klarzumachen, dass du noch lebst, aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie war sich sicher, dass jemand dich geschnappt und umgebracht hatte. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht stimmt, dass du weggerannt bist, mit deiner Beute. Ich versprach ihr, dass ich dich finden würde. Und wenn ich dich gefunden hätte, würde ich nicht wütend auf dich sein, ich würde dir vergeben. Sie hat nicht auf mich gehört. Sie ist verrückt geworden. Sie vergaß, wer ich war, und hielt mich für dich. Nannte mich Pavel und bat mich, ihr zu helfen, so wie du ihr immer geholfen hast. Ich habe so getan, als sei ich du, das war einfacher, weil es sie glücklich machte. Aber sobald ich einen Fehler machte, merkte sie, dass ich gar nicht du war. Dann wurde sie wütend und schlug mich, so lange, bis ihr Zorn verraucht war. Und dann trauerte sie wieder um dich. Sie hörte nie mehr auf, dich zu beweinen. Jeder Mensch braucht einen Grund zum Leben. Ihrer warst du. Aber meiner warst du auch. Der einzige Unterschied zwischen ihr und mir bestand darin, dass ich mir sicher war - du lebst noch.«
Leo hörte zu wie ein Kind, das vor einem Erwachsenen sitzt und sich von ihm hingerissen die Welt erklären lässt. Er konnte nicht einmal mehr die Hand heben, aufstehen oder irgendetwas anderes tun, um seinen Bruder zum Schweigen zu bringen. Andrej fuhr fort.
»Unsere Mutter gab sich auf, aber ich habe auf mich aufgepasst. Zum Glück für mich war der Winter schon fast vorbei und das Leben wurde langsam wieder besser. Nur zehn Leute aus unserem Dorf haben überlebt, elf mit dir. In anderen Dörfern gab es überhaupt keine Überlebenden mehr. Als der Frühling kam und der Schnee taute, fing es an zu stinken. Ganze Dörfer verwesten und waren verseucht, man konnte sich ihnen gar nicht nähern. Aber im Winter waren sie noch ganz still und friedlich. Und die ganze Zeit über zog ich durch den Wald und jagte, jeden Abend, ganz allein. Ich verfolgte Spuren und suchte nach dir, rief deinen Namen in die Bäume hinauf. Aber du kamst nie zurück.«
So als ob sein Gehirn die Worte nur ganz langsam verarbeiten könne, eines nach dem anderen, fragte Leo mit zögernder Stimme: »Du hast diese Kinder getötet, weil du dachtest, dass ich dich verlassen habe?«
»Ich habe sie getötet, damit du mich findest. Ich habe sie getötet, damit du wieder nach Hause kommst. Dass ich sie umbrachte, war meine Art, mit dir Kontakt aufzunehmen. Wer sonst hätte denn die Hinweise aus unserer Kindheit verstehen sollen? Ich wusste, du würdest ihnen nachgehen, so wie du den Spuren im Schnee nachgegangen bist. Du bist ein Jäger, Pavel, der beste Jäger der Welt. Ich wusste nicht, ob du bei der Miliz bist oder nicht. Als ich dein Foto sah, habe ich mit den Leuten von der >Prawda< gesprochen und nach deinem Namen gefragt. Ich erklärte ihnen, dass wir getrennt worden waren und ich glaubte, dein Name sei Pavel. Sie fertigten mich damit ab, dein Name sei nicht Pavel und deine Personaldaten seien vertraulich. Ich flehte sie an, mir wenigstens zu sagen, in welcher Division du kämpftest. Noch nicht einmal das wollten sie mir verraten. Ich war auch Soldat. Nicht so einer wie du, kein Held, keine Elite. Aber ich wusste genug, um zu begreifen, dass du in einer Spezialeinheit sein musstest. Nach der Geheimniskrämerei um deinen Namen zu urteilen war es gut möglich, dass du entweder beim Militär, bei der Staatssicherheit oder bei der Regierung warst. Ich wusste, dass du jemand Wichtiges sein musstest, alles andere war undenkbar. Du würdest Zugang zu Informationen über diese Morde haben. Andererseits spielte das gar keine so große Rolle. Wenn ich nur genügend Kinder an genügend verschiedenen Orten umbrachte, dann würdest du irgendwann bestimmt auf meine Taten aufmerksam werden, egal in welchem Beruf. Ich war mir sicher, du würdest merken, dass ich es war.«
Leo lehnte sich vor. Sein Bruder wirkte so sanft, seine Überlegungen so durchdacht. Er fragte ihn: »Was ist dir dann passiert, Bruder?«
»Du meinst, nach dem Dorf? Dasselbe wie allen: Ich wurde in die Armee eingezogen. In einer Schlacht habe ich meine Brille verloren und bin den Deutschen in die Hände gestolpert. Ich wurde gefangen genommen und ergab mich. Als ich wieder nach Russland zurückkam, wurde ich als ehemaliger Kriegsgefangener verhaftet, verhört und geschlagen. Sie drohten damit, mich ins Gefängnis zu stecken. Ich fragte sie, wie ich denn ein Verräter sein könne, wo ich doch kaum etwas sah. Sechs Monate lang hatte ich keine Brille. Jenseits von meiner Nasenspitze war die ganze Welt nur ein einziger Nebel. Und jedes Kind, das ich sah, warst du. Eigentlich sollte ich exekutiert werden, aber die Wachen mussten jedes Mal lachen, wenn ich wieder etwas umstieß. Am laufenden Band fiel ich hin, genau wie als Kind. Ich überlebte. Ich war viel zu dumm und tapsig, um ein Spion für die Deutschen zu sein. Sie beschimpften mich und verprügelten mich, dann ließen sie mich gehen. Aber das machte mir alles nichts aus. Ich hatte ja dich. Und so habe ich mein ganzes Leben dem Ziel gewidmet, dich wieder zu mir zurückzubringen.«
»Und deshalb hast du angefangen zu morden?«
»Zuerst habe ich es nur bei uns in der Gegend gemacht. Aber nach einem halben Jahr musste ich einsehen, dass du ja überall im Land sein konntest. Deshalb habe ich mir Arbeit als Tolkatsch gesucht, damit ich reisen konnte. Ich musste meine Zeichen im ganzen Land verteilen, damit du ihnen folgen konntest.«
»Zeichen? Das waren Kinder!«
»Am Anfang habe ich Tiere getötet. Ich habe sie genauso gefangen wie wir damals die Katze. Aber das funktionierte nicht. Das störte niemanden, fiel überhaupt keinem auf. Eines Tages kam mir zufällig im Wald ein Kind entgegen und fragte, was ich da machte. Ich erklärte ihm, dass ich einen Köder auslegte. Der Junge war ungefähr so alt wie du, als du mich verlassen hast. Und da kam ich auf den Gedanken, dass das Kind doch einen viel besseren Köder abgeben würde. Ein totes Kind würde den Leuten bestimmt auffallen. Und du würdest den Hinweis verstehen. Warum habe ich wohl so viele Kinder im Winter getötet? Damit du den Spuren durch den Schnee würdest folgen können. Bist du denn nicht meinen Fußspuren bis in den Wald hinein gefolgt, genauso wie damals bei der Katze?«
Leo hatte der leisen Stimme seines Bruders zugehört, als spräche der in einer fremden Sprache, die er kaum verstand. Jetzt unterbrach er ihn. »Andrej, du hast doch selbst eine Familie. Da oben habe ich deine Kinder gesehen. Sie sind genauso wie die Kinder, die du umgebracht hast. Du hast zwei schöne kleine Mädchen. Kannst du denn nicht begreifen, dass das, was du gemacht hast, falsch war?«
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