»Ich danke Ihnen, Euer Ehren.« Jennifer mußte die Worte herauspressen.
Das Gesicht des Richters war undurchdringlich, als er fortfuhr: »Beinahe unausweichlich habe ich am Ende eines Prozesses ein Gespür dafür, ob der Gerechtigkeit ein Dienst erwiesen worden ist oder nic ht. Offen gesagt - in diesem Fall bin ich nicht sicher.« Jennifer wartete darauf, daß er weitersprach. »Das ist alles, Miß Parker.«
In den Abendausgaben der Zeitungen und den Fernsehnachrichten beherrschte Jennifer Parker erneut die Schlagzeilen, aber dieses Mal war sie die Heldin. Sie war der David der Rechtsprechung, der Goliath besiegt hatte. Die Titelseiten waren mit Bildern von ihr, Abraham Wilson und Staatsanwalt Di Silva gepflastert. Hungrig verschlang Jennifer jedes Wort der Artikel, kostete jede Silbe aus. Nach all der Schande, die sie durchlitten hatte, war der Sieg unglaublich süß. Ken Bailey führte sie zu Luchow's zum Abendessen, und Jennifer wurde vom Oberkellner und einigen der Gäste erkannt. Völlig Fremde sprachen sie mit ihrem Namen an und gratulierten ihr. Es war ein berauschendes Erlebnis. »Wie fühlt man sich als Berühmtheit?« fragte Ken grinsend. »Ich bin wie betäubt.«
Jemand schickte eine Flasche Wein an ihren Tisch. »Ich brauche nichts zu trinken«, meinte Jennifer. »Ich fühle mich, als hä tte ich einen Vollrausch.«
Aber sie hatte Durst und trank drei Gläser Weißwein, während sie den Prozeß mit Ken wieder aufwärmte. »Mein Gott, hatte ich eine Angst! Hast du eine Ahnung, wie man sich fühlt, wenn man ein fremdes Leben in seiner Hand hält? Es ist, als spielte man Gott. Kannst du dir etwas Erschreckenderes vorstellen? Ich meine, ich komme aus Kelso... Können wir noch eine Flasche Wein haben, Ken?«
»Was immer du willst.«
Ken bestellte ein Festmahl für sie beide, aber Jennifer war zu aufgeregt zum Essen.
»Weißt du, was Abraham Wilson zu mir sagte, als ich ihn das erste Mal getroffen habe? Er sagte, ›Sie kriechen in meine Haut, und ich krieche in Ihre, und dann unterhalten wir uns über Haß‹. Ken, heute war ich in seiner Haut, und weißt du was? Ich dachte, die Jury würde mich verurteilen. Ich fühlte mich, als würde ich hingerichtet. Ich liebe Abraham Wilson. Könnten wir noch etwas Wein haben?«
»Du hast keinen Bissen gegessen.«
»Ich bin durstig.«
Ken sah besorgt zu, wie Jennifer ein Glas nach dem anderen füllte und leerte. »Immer mit der Ruhe«, sagte er sanft. Sie beruhigte ihn mit einer munteren Handbewegung. »Das ist kalifornischer Wein. Du könntest genausogut Wasser trinken.« Sie nahm einen weiteren Schluck. »Du bist mein bester Freund. Weißt du auch, wer nicht mein bester Freund ist? Der große Robert Di Sliva. Di Sivla.«
»Di Silva.«
»Der auch. Er haßt mich. Hast du sein Gesicht heute geseh'n? Oh, Mann, war der wütend! Er sagte, er wollte mich aus dem
Gerichtssaal fegen. Aber das hat er nicht geschafft, oder?«
»Nein, er...«
»Weißt du, was ich glaube? Was ich wirklich glaube?«
»Ich...«
»Di Sliva denkt, ich bin Ahab, und er is' der weiße Wal.«
»Ich glaube, du hast das durcheinandergebracht.«
»Danke, Ken. Auf dich kann ich mich immer verlassen. Laß uns noch 'ne Flasche Wein trinken.«
»Glaubst du nicht, daß du genug hast?«
»Wale haben Durst.« Jennifer kicherte. »Das bin ich. Der dicke, alte, weiße Wal. Hab ich dir schon gesagt, daß ich Abraham Wilson liebe? Er ist der schönste Mann, den ich je getroffen habe. Ich habe in seine Augen gesehen, Ken, mein Freund, und er ist einfach schön. Hast du je in Di Sivlas Augen geblickt? Oh, Mann sind die kalt! Ich meine, er is'n Eisberg.
Aber er ist kein schlechter Mensch. Habe ich dir schon von Ahab un' dem groß'n weißen Wal erzählt?«
»Ja.«
»Ich liebe den alten Ahab. Ich liebe alle und jeden. Un' weißt du, warum, Ken? Weil Abraham Wilson heute nacht am Leben ist. Er ist lebendig. Laß uns noch eine Flasche Wein bestellen, zum Feiern...«
Um zwei Uhr morgens brachte Ken Jennifer nach Hause. Er half ihr die vier steilen Treppen hinauf und in ihr kleines Appartement. Sein Atem ging heftig vom Klettern. »Ich glaube«, sagte Ken, »ich spüre den Wein.«
Jennifer blickte ihn voll Mitleid an. »Weißt du, wenn man nichts vertragen kann, sollte man nicht trinken.« Und sie verlor das Bewußtsein.
Sie erwachte vom Schrillen des Telefons. Vorsichtig tastete sie nach dem Apparat. Die leiseste Bewegung sandte schmerzhafte Raketen durch jedes Nervenende in ihrem Körper. »'lo...«
»Jennifer? Hier spricht Ken.« »'lo, Ken.«
»Du klingst furchtbar. Geht es dir gut?« Sie dachte darüber nach. »Ich glaube nicht. Wie spät ist es?«
»Es ist beinahe Mittag. Du solltest besser sehen, daß du herkommst. Hier ist die Hölle ausgebrochen.«
»Ken - ich glaube, ich sterbe.«
»Hör zu. Steh auf - langsam -, nimm zwei Aspirin und eine kalte Dusche, trink eine Tasse heißen, schwarzen Kaffee, und du bleibst vielleicht am Leben.«
Als Jennifer eine Stunde später das Büro erreichte, fühlte sie sich besser. Nicht gut, dachte sie, aber besser. Als sie eintrat, klingelten beide Telefone. »Das ist für dich«, sagte Ken grinsend. »Sie klingeln, seit ich hier bin. Du brauchst eine Schalttafel.« Zeitungen, Illustrierte, Fernsehsender und Radiostationen riefen an und wollten Hintergrundstories über Jennifer bringen. Über Nacht war sie eine Berühmtheit geworden. Es gab noch andere Anrufe - die, von denen sie geträumt hatte. Anwaltskanzleien, die sie zuvor kurz abgefertigt hatten, riefen an, um zu fragen, ob es ihr möglich wäre, ihnen einen Gesprächstermin einzuräumen...
In seinem Büro brüllte Robert Di Silva seinen ersten Assistenten an: »Ich möchte, daß Sie eine vertrauliche Akte über Jennifer Parker anlegen. Ich möchte über jeden Mandanten, den sie annimmt, Bescheid wissen. Verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Los, an die Arbeit!«
»Wenn der kein Killer mehr ist, bin ich eine gottverdammte Jungfrau. Er hat sein ganzes Leben mit der Waffe in der Hand verbracht.«
»Das Arschloch kam angekrochen und wollte, daß ich bei Mike ein Wort für ihn einlege. Ich hab' gesagt, ›He, paesano, ich bin nur ein Soldat, weißt du? ‹Wenn Mike noch einen Revolvermann braucht, hat er es nicht nötig, in einem Scheißehaufen danach zu suchen.«
»Er hat versucht, dich reinzulegen, Sal.«
»Na, ich hab' ihm ganz schön eins gehustet. Er hat keine Verbindungen, und wenn du in diesem Geschäft keine Verbindungen hast, bist du ein Dreck.«
Sie unterhielten sich in der Küche eines dreihundert Jahre alten Farmgebäudes in New Jersey. Sie waren zu dritt: Nick Vito, Joseph Colella und Salvatore »Pusteblume« Fiore. Nick Vito war ein leichenblasser Mann mit beinahe unsichtbaren, dünnen Lippen und toten, tiefgrünen Augen. Er trug weiße Socken und Zweihundert-Dollar-Schuhe. Joseph »Big Joe« Colella war ein Berg von einem Mann, ein Granitblock, und wenn er ging, sah er aus wie ein wandelnder Wolkenkratzer. Jemand hatte ihn einmal einen menschlichen Gemüsegarten genannt. »Colella hat eine Kartoffelnase, Blumenkohlohren und ein Gehirn von der Größe einer Erdnuß.« Colella hatte eine sanfte, hohe Stimme und täuschend höfliche Manieren. Er besaß ein eigenes Rennpferd und hatte einen untrüglichen Sinn dafür, auf Gewinner zu setzen. Er war Familienvater mit einer Frau und sechs Kindern. Seine Spezialitäten waren Schußwaffen, Säure und Ketten. Joes Frau, Carmelina, war eine strenge Katholikin, und sonntags, wenn er nicht gerade arbeitete, ging Colella regelmäßig mit seiner Familie in die Kirche.
Der dritte Mann, Salvatore Fiore, war fast ein Liliputaner. Er war einen Meter dreiundfünfzig groß und wog hundertfünfzehn Pfund. Er besaß das unschuldige Gesicht eines Chorknaben und konnte mit dem Revolver genausogut umgehen wie mit dem Messer. Auf Frauen besaß der kleine Mann eine unwiderstehliche Anziehungskraft, und er rühmte sich einer Ehefrau, eines halben Dutzends Freundinnen und einer wunderschönen Geliebten. Früher war Fiore ein Jockey gewesen und hatte von Pimlico bis Tijuana auf allen Rennbahnen gearbeitet. Nachdem der Rennleiter des Hollywood Parks Fiore disqualifiziert hatte, weil Fiore ein Pferd gedopt haben sollte, war die Leiche des Rennleiters eine Woche später als Treibgut im Lake Tahoe gefunden worden.
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