Geschickt und absichtlich beeinflußte er die Jury gegen Abraham Wilson, aber er überschritt seine Grenzen nicht, um Jennifer keine Handhabe zu geben, wegen eines Formfehlers einen fehlerhaft geführten Prozeß nachweisen oder Revision beantragen zu können.
Jennifer beobachtete die Gesichter der Geschworenen. Robert Di Silva hatte sie in der Tasche, ohne jeden Zweifel. Sie stimmten jedem seiner Worte zu. Sie schüttelten den Kopf, nickten oder zuckten zusammen. Es fehlte nur noch, daß sie applaudiert hätten. Er war ein Dirigent, und die Jury war sein Orchester. Jennifer hatte noch nie etwas Ähnliches erlebt. Jedesmal, wenn der Staatsanwalt Abraham Wilsons Namen erwähnte - und er erwähnte ihn in beinahe jedem Satz -, blickten die Geschworenen automatisch den Angeklagten an. Jennifer hatte Wilson eingebläut, auf keinen Fall zur Jury hinüberzusehen. Immer und immer wieder hatte sie ihm eingeschärft, überall hinzuschauen, nur nicht zu den Geschworenen, denn die Herausforderung, die er ausstrahlte, konnte einen rasend machen. Zu ihrem Entsetzen stellte Jennifer jetzt fest, daß seine Blicke geradezu am Geschworenenstand klebten und sich tief in die Augen der Jurymitglieder bohrten. Aggression schien aus ihm hervorzuquellen. Leise sagte Jennifer: »Abraham...« Er reagierte nicht.
Der Staatsanwalt näherte sich dem Ende seiner Ausführungen. »Die Bibel sagt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Das ist Rache. Der Staat verlangt nicht nach Rache. Er verlangt Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für den armen Mann, den Abraham Wilson kaltblütig - kaltblütig - ermordet hat. Ich danke Ihnen.«
Der Staatsanwalt nahm wieder Platz.
Als Jennifer aufstand, um sich an die Geschworenen zu wenden, konnte sie ihre Ablehnung und Ungeduld spüren. Sie hatte Bücher über Anwälte gelesen, die fähig waren, die Gedanken der Geschworenen zu lesen, und sie war skeptisch gewesen. Jetzt nicht mehr. Die Botschaft der Jury an sie war klar und deutlich. Die Geschworenen hatten ihren Mandanten bereits schuldig gesprochen, und jetzt vergeudete Jennifer nur noch ihre Zeit und hielt sie im Gericht fest, wo sie doch längst draußen wichtigeren Beschäftigungen nachgehen konnten, wie ihr Freund, der Staatsanwalt, sehr richtig erkannt hatte. Jennifer und Abraham Wilson waren der Feind. Sie holte tief Luft und sagte: »Wenn Euer Ehren gestatten«, ehe sie sich wieder den Geschworenen zuwandte. »Meine Damen und Herren, es gibt nur deshalb Gerichte, und wir sind nur deshalb heute alle hier, weil das Gesetz in seiner Weisheit erkannt hat, daß jeder Fall zwei Seiten hat. Wenn man hört, wie der Staatsanwalt meinen Mandanten angreift, wie er ihn bereits schuldig spricht, ohne sich dabei auf das Urteil einer Jury - auf Ihr Urteil - stützen zu können, dann müßte man fast einen gegenteiligen Eindruck gewinnen.« Sie blickte in die Gesichter der Geschworenen, suchte nach einem Zeichen der Sympathie oder Zustimmung, aber es gab keines. Sie zwang sich fortzufahren. »Staatsanwalt Di Silva hat einen Satz immer und immer wieder benutzt ->Abraham Wilson ist schuldig<. Das ist eine Lüge. Richter Waldman wird Ihnen erklären, daß ein Angeklagter so lange unschuldig ist, bis ein Richter oder eine Jury das Gegenteil befindet. Und deswegen sind wir alle hier, um diese Frage zu klären, nicht wahr? Abraham Wilson wird beschuldigt, einen Mithäftling in Sing Sing umgebracht zu haben. Aber Abraham Wilson hat nicht für Geld oder Rauschgift getötet. Er tötete, um sein eigenes Leben zu retten. Sie werden sich so gut wie ich an die geschickten Beispiele erinnern, mit denen der Staatsanwalt den Unterschied zwischen kaltblütigem Mord und Totschlag im Affekt erklärt hat. Um Totschlag im Affekt handelt es sich, wenn Se jemanden, den Sie lieben, beschützen oder wenn Sie sich Ihrer Haut wehren. Abraham Wilson hat getötet, um sich selber zu schützen, und ich sage Ihnen hier und jetzt, daß jeder von uns hier im Gerichtssaal unter denselben Umständen genauso gehandelt hätte.
Der Staatsanwalt und ich stimmen in einem Punkt überein: Jeder Mensch hat das Recht, sein eigenes Leben zu schützen. Wenn Abraham Wilson sich anders verhalten hätte, als er es getan hat, wäre er jetzt tot.« Jennifers Stimme klang aufrichtig. Ihre leidenschaftliche Überzeugung hatte sie alle Nervosität vergessen lassen. »Ich bitte jeden von Ihnen, eines nicht zu vergessen: nach den Gesetzen dieses Staates muß die Anklage über jeden Zweifel hinaus beweisen, daß Raymond Thorpes Tod nicht in einem Akt der Selbstverteidigung herbeigeführt wurde. Und bevor dieser Prozeß vorbei ist, werden wir Ihnen klare Beweise dafür liefern, daß Thorpe getötet wurde, damit er meinen Mandanten nicht umbringen konnte. Ich danke Ihnen.«
Die Parade der Zeugen der Anklage begann. Robert Di Silva hatte keine Möglichkeit außer acht gelassen. Seine Leumundszeugen für Raymond Thorpe umfaßten einen Geistlichen, Gefängniswärter und ein paar Mithäftlinge. Einer nach dem anderen bestiegen sie den Zeugenstand und bestätigten den tadellosen Charakter und die friedliche Veranlagung des Getöteten.
Jedesmal, wenn der Staatsanwalt mit einem Zeugen fertig war, wandte er sich an Jennifer und sagte: »Ihr Zeuge.« Und jedesmal antwortete Jennifer: »Kein Kreuzverhör.«
Sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, die Leumundszeugen in ein schiefes Licht zu rücken. Als sie fertig waren, hätte man denken können, daß Raymond Thorpe nur um ein Haar der Heiligsprechung entgangen war. Die Wärter, von Di Silva sorgfältig gelenkt, sagten aus, Thorpe sei ein Mustergefangener gewesen, der durch Sing Sing gewandelt war und eine Spur von guten Taten hinter sich gelassen hatte, immer auf dem Sprung, seinem Nächsten zu helfen. Die Tatsache, daß Raymond Thorpe des Bankraubs und der Vergewaltigung überführt war, schien nur ein verschwindend kleiner Makel an einem ansonsten vollkommenen Charakter zu sein. Jennifers ohnehin auf schwachen Beinen stehende Verteidigung wurde durch die Beschreibung von Thorpes Äußerem zusätzlich erschüttert. Er war ein schwächlich gebauter Mann und kaum einen Meter sechzig groß gewesen. Robert Di Silva ritt auf dieser Tatsache herum und ließ sie die Geschworenen niemals vergessen. Er schuf ein plastisches Bild davon, wie Abraham Wilson den kleineren Mann brutal und bösartig angefallen, seinen Kopf gegen eine Zementmauer des Gefängnishofes geschmettert und damit seinen sofortigen Tod verursacht habe. Während Di Silva sprach, hingen die Augen der Geschworenen an dem Koloß am Angeklagtentisch, der jeden in seiner Umgebung wie einen Zwerg erscheinen ließ.
Der Staatsanwalt sagte: »Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, was Abraham Wilson dazu veranlaßte, diesen harmlosen, unbewaffneten kleinen Mann...« Und plötzlich tat Jennifers Herz einen Sprung. Eines der Worte, die Di Silva gesagt hatte, gab ihr die Chance, die sie so verzweifelt brauchte.
»... wir werden vielleicht nie wissen, was den Angeklagten zu seinem bösartigen Überfall hingerissen hat, aber wir wissen mit Sicherheit, meine Damen und Herren, der Grund ist nicht darin zu suchen, daß der Ermordete eine Bedrohung für Abraham Wilson dargestellt hätte.« Er wandte sich an Richter Waldman. »Euer Ehren, würden Sie den Angeklagten bitten, aufzustehen?«
Richter Waldman blickte Jennifer an. »Hat der Vertreter der Verteidigung irgendwelche Einwände?« Jennifer ahnte, was nun folgen würde, aber sie wußte, daß jeder Einwand sich nur nachteilig auswirken würde. »Nein, Euer Ehren.«
Richter Waldman sagte: »Würde der Angeklagte bitte aufstehen.«
Abraham Wilson blieb einen Moment lang mit trotzigem Gesicht sitzen; dann richtete er sich langsam zu seiner vollen Größe auf.
Di Silva sagte: »Unter den Anwesenden befindet sich ein Gerichtsdiener, Mr. Galin, der genau die Größe des ermordeten Mannes hat. Mr. Galin, würden Sie sich bitte neben den Angeklagten stellen?«
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