þórólfur verschränkte mit strengem Gesichtsausdruck ebenfalls die Arme. »Wir haben gestern und heute mit vielen Zeugen gesprochen. Ihre Aussagen werfen kein gutes Licht auf deinen Mandanten.«
Dóra atmete tief ein. »Und was heißt das? Willst du ihn verhaften?«
»Kommt drauf an, was er bei der Vernehmung sagt«, antwortete þórólfur und zuckte die Achseln. »Wer weiß, vielleicht hat er ja Erklärungen parat.«
»Erklärungen?«, fragte Dóra. »Erklärungen wofür? Hat er denn nicht schon genug Erklärungen abgegeben?«
»Wie gesagt, heute und gestern ist einiges ans Licht gekommen, was wir beim letzten Gespräch noch nicht wussten. Außerdem finde ich seine Erklärungen bis jetzt nicht sehr überzeugend«, antwortete þórólfur. »Sollen wir nicht einfach anfangen? Dann wirst du schon erfahren, welche Fragen wir haben.«
»Lass mich zwei Minuten mit ihm allein«, bat sie. »Ich muss ihm die veränderte Situation erklären.«
þórólfur wirkte alles andere als einverstanden, gab aber trotzdem nach. Er zitierte seinen Assistenten aus dem Büro, und Dóra ging stattdessen hinein. Rasch setzte sie sich neben Jónas, der sie verwirrt anschaute. »Was ist?«, fragte er besorgt. »Warum bist du rausgegangen?«
Dóra legte ihm beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Jónas, die Lage hat sich verändert. Bisher bist du als Zeuge befragt und zu Beginn der Vernehmungen entsprechend darauf hingewiesen worden. Jetzt hast du den Status eines Verdächtigen oder Angeklagten.«
»Was?«, blaffte Jónas, »ich?«
»Ja, du«, antwortete Dóra. »Wir haben nicht viel Zeit, also lass uns zur Sache kommen. Hör mir jetzt mal zu.« Sie schaute Jónas in die Augen. »þórólfur hat mir gesagt, bei den Zeugenvernehmungen sei einiges ans Licht gekommen, was dazu geführt hätte, dass du unter Verdacht stehst.«
»Wie bitte? Ich hab nichts getan, das hab ich ihnen doch gesagt!« Jónas schrie fast. »Die Zeugen müssen gelogen haben.«
Dóra spürte, dass sein Bein zitterte.
»Es ist gut möglich, dass die Zeugen nicht die Wahrheit sagen, Jónas«, entgegnete Dóra und verstärkte den Griff um sein Knie, um ihn zu beruhigen. »Es ist jetzt sehr wichtig, dass du erklären kannst, wo du warst, und dass du þórólfurs Fragen glaubwürdig beantworten kannst. Wenn er sich mit deinen Antworten nicht zufriedengibt, läufst du Gefahr, festgenommen zu werden.«
Jónas’ Bein verkrampfte sich. Er wurde blass. »Festgenommen? Wie jetzt?«
»Verhaftet, Jónas«, sagte Dóra und beugte sich näher zu ihm. »Du wirst in einem Streifenwagen auf die Wache gebracht und morgen früh dem Haftrichter vorgeführt, der eine Untersuchungshaft anordnen soll.« Dóra hatte bisher erst drei Fälle gehabt, bei denen es zu einer kurzen U-Haft gekommen war, und kannte sich nicht genau mit den Formalitäten aus. Die besagten Fälle waren alles andere als gut verlaufen, und Dóra beschloss, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, Jónas auf ihre diesbezügliche Unerfahrenheit hinzuweisen.
»Ich kann nicht ins Gefängnis«, sagte Jónas. Er war so aufgelöst, dass Dóra seine Worte nicht anzweifelte. »Ich kann das einfach nicht. Heute ist Montag.«
Dóras Braue zuckte. »Montag? Ist das schlechter als irgendein anderer Tag?«
»Nein, nein«, sagte Jónas geistesabwesend. »Ich will das nur nicht. Montage sind meine Unglückstage.«
Dóra unterbrach ihn, bevor er anfangen konnte, über Sterne und Auren zu lamentieren. »Jetzt hör mir gut zu. Wir lassen die Polizisten jetzt wieder rein, und sie werden dich verhören. Ich hoffe, du kannst alles entkräften, was ihrer Meinung nach für deine Schuld spricht. Dann verspreche ich dir auch, dass du dieses Zimmer mit mir zusammen wieder verlassen wirst.«
»Und wenn ich es nicht kann?«, fragte Jónas und griff nach Dóras Hand, »was dann?«
»Dann müssen wir den Tatsachen ins Auge schauen.« Dóra klopfte ihm auf die Schulter. »Reiß dich zusammen und versuch, ganz natürlich zu sein.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Bist du bereit?«, fragte sie mit der Hand an der Türklinke. Jónas nickte. Er sah keineswegs so aus, als sei er auf die Dinge, die ihn erwarteten, vorbereitet.
»Ähm, ich weiß es nicht«, sagte Jónas und warf Dóra, die neben ihm saß, einen hektischen Blick zu.
þórólfur machte ein übertrieben verwundertes Gesicht. »Warum denn nicht? Wenn ich gefragt würde, ob ich letzten Donnerstag mit einer hübschen jungen Frau Geschlechtsverkehr gehabt hätte, würde es mir keine Schwierigkeiten bereiten, mich daran zu erinnern. Oder bist du so unermüdlich?«
Dóra stöhnte innerlich. »Er möchte die Frage nicht beantworten«, sagte sie mit unbewegter Miene.
»In Ordnung«, entgegnete þórólfur, »er muss sowieso eine Speichelprobe für einen DNA-Test abgeben.«
Für die Beantwortung der Frage war kein DNA-Test nötig. Jónas saß nervös neben ihr, die Schuld stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es lag auf der Hand, dass er am Donnerstag mit Birna Verkehr gehabt hatte — was leider auch der Tag war, an dem ihr Schicksal besiegelt wurde. »Hat man in Birnas Vagina Sperma gefunden?«, fragte Dóra. »Ich weise darauf hin, dass mir im Falle einer Untersuchungshaft alle Unterlagen vorgelegt werden müssen. Wir werden mit Sicherheit gegen eine solche Entscheidung vor dem Obersten Gerichtshof Einspruch erheben.« Sie hörte Jónas verhalten stöhnen.
»Darf ich fragen, ob ihr bei euren Ermittlungen darauf gestoßen seid, dass Birna ein Verhältnis mit einem Bauern aus der Nachbarschaft hatte?«, fragte Dóra, in der Hoffnung, die Polizei wäre noch nicht dahintergekommen. »Das erwähnte Sperma könnte möglicherweise von ihm sein.«
»Wir wissen alles über den Mann«, entgegnete þórólfur mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.
»Aha?«, sagte Dóra. »Wäre es da nicht naheliegend, ihn anstelle von Jónas zu verhören?«
»Das tun wir bereits«, sagte þórólfur und drehte geschickt einen Bleistift zwischen den Fingern. »Ungeachtet des Ergebnisses seines DNA-Tests, müssen wir auch deinen Mandanten einem solchen Test unterziehen.«
»Warum denn das?«, fragte Dóra. »Wenn das Sperma von dem Bauern stammt, kann es wohl kaum von Jónas sein?« þórólfur grinste fies, und bei Dóra fiel der Groschen. »In Birnas Vagina befand sich Sperma von zwei Männern?«
þórólfur hörte unvermittelt auf, mit dem Bleistift zu spielen. »Vielleicht«, antwortete er nach kurzem Zögern.
Dóra brauchte keine weiteren Beweise. Birna hatte am Tag ihres Todes mit zwei Männern geschlafen. Der eine war Jónas und der andere Bergur — oder der Mörder, oder es handelte sich dabei um ein und dieselbe Person. Dóra spürte, wie Jónas neben ihr erstarrte. Ihr war klar, worüber er sich Gedanken machte. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr, sodass die Polizisten es nicht hören konnten: »Du warst bestimmt der Erste.« Sie konnten es sich nicht leisten, dass Jónas noch nervöser wurde. Sie spürte, wie er sich ein wenig entspannte. »Mit einer Frau zu schlafen bedeutet nicht unbedingt, sie gleich umzubringen, oder?«, sagte sie zu þórólfur und fügte hinzu: »Jónas ist zum jetzigen Zeitpunkt nichts Derartiges nachzuweisen.«
»Nein, nicht unbedingt«, antwortete þórólfur. »Wenn aber die Ermordete Verletzungen an den inneren und äußeren Geschlechtsorganen hat, die darauf schließen lassen, dass sie vergewaltigt wurde, sieht die Sache ganz anders aus. Oder?«
Dóra beschloss, darauf nicht einzugehen. »Gibt es noch weitere unklare Punkte, oder ist Jónas’ angebliches Sperma das Einzige, wofür ihr noch keine Erklärung habt?«
»Es gibt noch mehr«, sagte þórólfur. »Wir sollten uns nochmal über die SMS unterhalten, die von deinem Handy geschickt wurde, Jónas. Kannst du uns das etwas näher erläutern als beim letzten Mal? Zum Beispiel, wo du an dem fraglichen Abend zwischen neun und zehn gewesen bist?«
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