»Kein Problem«, sagte þórólfur und schlug sich mit den Handflächen auf die Schenkel. »Nur noch zwei Fragen, den Rest besprechen wir später: Erstens — ist der Pferdestall normalerweise offen oder abgeschlossen? Zweitens — kanntest du den Toten?«
Bergur schaute nicht auf. »Der Stall ist nie abgeschlossen. Das war bisher nicht nötig.« Dann blickte er hoch und starrte þórólfur verzweifelt an. »Ich habe keine Ahnung, ob ich den Mann gekannt habe. Das könnte jeder sein — du hast doch gesehen, wie er zugerichtet war.«
»Sehr richtig«, sagte þórólfur und machte Anstalten, aufzustehen. »Ach, entschuldige, noch eine allerletzte Frage.«
Bergur schaute den Mann entmutigt an. »Was?«
»Wir haben an der Boxenwand etwas Gekritzeltes, oder besser gesagt etwas Eingeritztes entdeckt. Es sind ein paar Buchstaben, und wir überlegen, ob die schon länger da sind.«
»Buchstaben?«, sagte Bergur verwundert. »Ich weiß nichts von Buchstaben. Was steht denn da?«
»Tja, es scheint mir R-E-R zu sein. Sagt dir das was?«
Bergur schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab das nie gesehen und weiß nicht, was es bedeutet.« Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, antwortete er nach bestem Wissen und Gewissen. Dennoch wurde þórólfur das Gefühl nicht los, dass Bergur etwas verheimlichte. Aber was?
»Wenn ich nicht solchen Hunger hätte, würde ich vorschlagen, dass wir woanders hingehen«, sagte Matthias, während er Dóra die Restauranttür aufhielt. Es handelte sich um ein auf vegetarische Speisen spezialisiertes Lokal, und trotz Dóras grober Übersetzung der lobenden Beurteilungen auf den zahlreichen eingerahmten Zeitungsausschnitten im Fenster war Matthias alles andere als begeistert.
»Bier ist auch Gemüse«, sagte Dóra und lächelte ihm zu. »Oder aus Gemüse zumindest.«
Matthias schüttelte pikiert den Kopf. »Ich weiß ja nicht, woher du dein Wissen über Bier hast, aber glaub mir, das stimmt nicht.« Er betrat nach ihr das Restaurant. »Bier besteht zum größten Teil aus Getreide.«
»Getreide — Gemüse«, sagte Dóra, während sie sich nach einer Bedienung umschaute, die ihnen einen Tisch zuweisen würde. »Da gibt’s doch keinen Unterschied.« An der Bar sah sie eine Frau, die ihr bekannt vorkam, und stieß Matthias mit dem Ellbogen an. »Die Frau da arbeitet im Hotel. Vielleicht sollten wir uns kurz mit ihr unterhalten.«
»Ich setze mich da nur hin, wenn ich eine Speisekarte bekomme und an der Bar bestellen kann«, erwiderte Matthias. »Und unter der Bedingung, dass es Erdnüsse gibt.«
»Einverstanden«, sagte Dóra und lächelte der herbeieilenden Bedienung zu. »Wir setzen uns zuerst an die Bar, wenn das okay ist. Aber wir sind trotzdem ziemlich hungrig und hätten gerne direkt die Speisekarte.« Sie gingen zur Bar, und Dóra kletterte auf einen Hocker neben die Frau. Es gab nur vier Plätze. Matthias setzte sich neben Dóra, direkt vor eine kleine Schale mit Nüssen.
»Hallo«, sagte Dóra und beugte sich vor, damit die Frau ihr Gesicht sehen konnte. »Kennen wir uns nicht zufällig aus dem Hotel? Bei Jónas?«
Die Frau hatte offensichtlich etwas zu viel getrunken. Vor ihr stand ein imposantes Glas mit einem giftgrünen Cocktail. Daneben lagen mehrere rote Plastikzahnstocher mit aufgespießten Cocktailkirschen. Es dauerte eine Weile, bis die Frau die Frage registriert und ihre Augen unter Kontrolle hatte, die inmitten von starker Augenschminke zu schwimmen schienen. Als sie anfing zu sprechen, klang sie jedoch keineswegs so betrunken, wie Dóra vermutet hatte. »Äh, kenne ich dich?«, fragte sie mit ziemlich tiefer Stimme.
»Nein, wir kennen uns nicht, aber ich habe dich gesehen. Ich heiße Dóra und arbeite für Jónas.« Dóra reichte ihr die Hand.
Der Handschlag der Frau war kraftlos. »Ach ja, stimmt. Jetzt erinnere ich mich an dich. Ich bin Stefanía, Sexualberaterin.«
Dóra war verblüfft, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Die Frau wäre mit ziemlicher Sicherheit von einer übertriebenen Reaktion wenig begeistert. »Ah ja, hast du viel zu tun?«
Die Frau zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Cocktail. »Manchmal. Manchmal nicht.« Sie stellte das Glas ab und leckte sich über die rotgeschminkten Lippen. »Jónas meint, es würde alles besser werden. Aber ehrlich gesagt ist wirklich nicht viel los.«
»Wie schade«, sagte Dóra mitfühlend. »Aber ansonsten ist das doch bestimmt ein toller Arbeitsplatz, oder? Ein wunderschöner Ort.«
Die Frau schnaubte und verzog das Gesicht. »Nein, es ist gar nicht toll.« Sie bemühte sich, Dóras Augen zu fixieren.
»Meinst du … wegen des Spuks?«, fragte Dóra. »Ist es deshalb unangenehm?«
Stefanía schüttelte energisch den Kopf. »Nee, zum Glück bin ich abends nie dort. Ich meine, ich hab keine Geister bemerkt, aber die kommen ja auch nur nachts. Hab noch nie von einem Geist gehört, der die Leute tagsüber heimsucht.« Sie strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Nein, mein Problem an diesem tollen Arbeitsplatz sind die Frauen.« Sie seufzte. »Frauen machen immer Ärger. Es wäre super, wenn nur Männer da arbeiten würden.« Sie zögerte. »Und ich natürlich.«
»Ja, klar«, entgegnete Dóra. »Welche Frauen meinst du denn? Ich hab noch nicht so viele getroffen und mich bisher nur mit Vigdís von der Rezeption unterhalten.«
»Vigdís, Pigdís«, murmelte Stefanía. »Sie ist eine totale Zicke.«
»Oh«, sagte Dóra verwundert. »Ich kenne sie natürlich nicht gut, aber sie schien ganz nett zu sein. Vielleicht hab ich sie falsch eingeschätzt.«
»Und ob«, sagte Stefanía erbost. »Mich kann sie jedenfalls nicht ausstehen, obwohl ich ihr nie was getan hab.« Sie schaute Dóra ernst an und fügte hinzu: »Ich hab das allerdings analysiert und weiß, was ihr Problem ist.« Sie machte eine kurze dramatische Pause. »Sie hat Angst vor mir — sexuelle Angst.« Sie schaute Dóra triumphierend an.
»Inwiefern?«, fragte Dóra verständnislos. »Hat sie Angst, dass du sie vergewaltigst?«
Stefanía lachte. Ihr Lachen war leicht und ungekünstelt, ganz anders als der Rest der Frau. »Nee, du Dummerchen. Als Frau hat sie eine Urangst vor anderen Frauen, die attraktiver sind als sie.« Sie lächelte schmeichlerisch. »Man braucht keinen Röntgenblick, um zu sehen, dass ich sexuell wesentlich attraktiver bin als sie.« Sie nahm einen Schluck. »Das passiert mir ständig. Ich kenne die Anzeichen in- und auswendig.«
Matthias zupfte an Dóras Ärmel. »Können wir jetzt bestellen?«
Dóra betrachtete die leere Erdnussschale. »Kein Problem, ruf einfach die Bedienung.« Sie wollte sich wieder Stefanía zuwenden, aber Matthias hielt sie zurück.
»Und du? Was möchtest du essen?« Matthias zeigte auf die vor Dóra liegende Speisekarte, die sie bisher keines Blickes gewürdigt hatte.
»Irgendwas«, antwortete Dóra. »Bestell einfach irgendwas.« Sie wandte sich wieder an Stefanía, während Matthias die Bedienung heranwinkte. »Apropos Frauen«, sagte sie. »Kanntest du eigentlich Birna? Die Architektin?«
Stefanías Gesicht veränderte sich schlagartig. Es erschlaffte, und eine Sekunde lang hatte Dóra den Eindruck, es würde schmelzen. »Oh mein Gott«, sagte Stefanía. Sie schien einen Kloß im Hals zu haben. »Das ist alles so entsetzlich.«
»Das ist es«, bestätigte Dóra. »Sie gehörte also nicht zu den unangenehmen Frauen?«
»Nein, auf keinen Fall. Sie war hinreißend.« Stefanía leerte ihr Glas in einem Zug. Anschließend nahm sie den kleinen Zahnstocher mit der Kirsche, steckte ihn in den Mund und sog eine Weile daran. Dann legte sie ihn feierlich neben die anderen Zahnstocher auf den Tresen. »Die ganze Geschichte hat mich so durcheinandergebracht, dass ich gar nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.« Sie sah Dóra an. »Normalerweise komme ich sonntagabends nicht hierher. Obwohl ich in der Nähe wohne.«
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