Auch Genosse Lit hatte die Verwandlung bemerkt. »Dr. Siri, darf ich fragen, was gerade passiert ist?«
Nach allem, was der Sicherheitschef mit angehört hatte, hielt Siri es für sinnlos, ihn weiter im Unklaren zu lassen. »Genosse Lit, in der vergangenen Woche hat der Geist Odons in meinem Körper gewohnt. Er fuhr an Santiagos Altar in mich. Damals dachte ich, er wolle sich an Schwester Dtui vergehen, aber wie sich herausstellte, richtete sich seine Wut gegen Santiago. Darauf hätte ich eigentlich schon viel früher kommen können.«
»Worauf? Dass ein Geist, der etwas auf sich hält, nie und nimmer über meine süße kleine Wenigkeit herfallen würde?«, fragte Dtui. Da sie sich dem alten Kubaner gegenüber nicht länger zur Höflichkeit verpflichtet fühlte, hatte sie das Übersetzen aufgegeben.
»Dass es dafür keinen logischen Grund gab«, sagte Siri. »Geister gehen im Allgemeinen logisch vor. Odon wollte seinen Namen und den seines Freundes reinwaschen, weil der Ruf eines Menschen seinen Tod überdauert. Und um uns auf die richtige Fährte zu führen. Jetzt hat er den Körper des Mannes in Besitz genommen, der seinen Tod verschuldet hat.«
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Lit.
»Ach, ich denke, die tätige Mithilfe des Doktors dürfte Ihnen sicher sein. Vielleicht legt er sogar das eine oder andere Geständnis ab. Sie sollten ihn über Nacht in eine Zelle stecken und morgen ein wenig mit ihm plaudern, am besten im Beisein der kubanischen Delegation. Die Herren werden sich wundern, wenn sie hören, was er zu sagen hat. Sie werden sich vermutlich mit den Familien von Isandro und Odon in Verbindung setzen wollen, um zu klären, was mit den Leichen geschehen soll. Unser Politbüro wird den Rücktransport bestimmt gern übernehmen.«
»Sollte Hong Lan nicht gemeinsam mit ihnen bestattet werden?«, fragte Dtui.
»Ich wüsste nicht, warum«, erwiderte Siri. »Es geht nur noch um ihren Körper. Ihre Seelen sind bereits vereint.«
20
DIE TANZENDEN TURNSCHUHE
Das Konzert sollte um halb sieben anfangen. Jetzt war es schon fast acht, und Dr. Siri saß noch immer neben einem leeren Stuhl etwa fünfzig Meter von der leeren Bühne entfernt. Die ersten sechsundzwanzig Reihen begannen sich eben zu füllen, und er hatte einen herrlichen Blick auf die Hinterköpfe berühmter Laoten und andere, vermutlich ebenso berühmte Köpfe aus befreundeten kommunistischen Ländern. Die Mitglieder des Politbüros waren mit ihren Frauen angereist, unter ihnen auch Civilai und seine Lebensgefährtin, das reizende Fräulein Nong. Ein Kordon uniformierter Soldaten trennte die Ehrengäste vom gemeinen Volk im hinteren Teil des Saales, wo Siri in einer der letzten Reihen saß und Dtui einen Stuhl freihielt.
Als Platzanweiser fungierten ehemals hochrangige Offiziere der royalistischen Armee. Nach fast zwei Jahren Umerziehung galten sie als einigermaßen vertrauenswürdig. Sie trugen geborgte Hemden und Krawatten und machten eine gekränkte Miene. Dabei konnte man ihre heutige Aufgabe – gemessen an ihren Erlebnissen im Dschungel – schwerlich als Demütigung bezeichnen. Kaum einer von ihnen wusste, dass ihr König und ihre Königin ebenfalls im »Exil« weilten, und es interessierte sie auch nicht.
Mit gebührender Verspätung betraten der Präsident, der Premierminister und die Leiter der vietnamesischen Delegation den Saal, begleitet vom donnernden Applaus des Publikums. Sie drehten sich um und erwiderten den Beifall, bevor sie sich auf den Sofas und Sesseln in der ersten Reihe niederließen. Wie bei allen großen und kleinen Veranstaltungen in der Volksrepublik Laos mussten die Zuhörer zunächst eine unerträglich lange und langweilige Rede über sich ergehen lassen, in der sämtliche Revolutionäre sowie deren Väter und Großväter gewürdigt wurden. Dtui traf gegen Ende der Ansprache ein.
»Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr«, sagte Siri, ohne die Stimme zu dämpfen. Die meisten Leute auf den billigen Plätzen plauderten ausgelassen miteinander. Um des laotischen Publikums Herr zu werden, waren sozialistische Verstärkeranlagen mit besonders leistungsfähigen Lautsprechern ausgestattet.
»Ich musste nur noch rasch zwei traumatische Erlebnisse hinter mich bringen«, erklärte sie.
»Sie haben sich mit Lit getroffen?«
»Das war das erste. Er machte eigentlich nicht den Eindruck, als ob ich ihm das Herz gebrochen hätte. Ich habe wohl eher seine Lebensplanung durcheinandergebracht. Verstehen Sie? Ehrlich gesagt, hatte ich das Gefühl, dass dem werten Genossen bei unserer kleinen Vorstellung heute Morgen der eine oder andere Zweifel gekommen ist, ob ich tatsächlich die Richtige für ihn bin.«
»Er weiß doch, dass Sie mit dem ganzen Schwindel nichts zu tun hatten.«
»Ja, aber ihm ist wohl nicht entgangen, dass ich auch nicht sonderlich erstaunt war. Ich bin schließlich nicht kreischend in Ohnmacht gefallen. Vielleicht erwartet er das von einer Frau. Die ganze Geschichte scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben. Er hat mich jedenfalls nicht gebeten, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken.«
»Umso besser. Ihr Entschluss stand schließlich felsenfest.«
»Ja. Trotzdem wäre es nett gewesen, einen Verehrer zu haben. Ich hätte mit ihm tanzen gehen und ihn den Mädels vorführen können. Außerdem hätte ich ihn gern meiner Mutter vorgestellt.«
Eine versehentliche Rückkopplung schrillte durch den Saal. Beschämt verstummten die Zuschauer.
»Und haben Sie mit Ihrer Mutter gesprochen?«, flüsterte Siri.
»Ja. Das war der zweite Schock.«
»Um Gottes willen. Warum?«
»Sie hat mir einen Brief vorgelesen.«
»Schlechte Nachrichten?«
»Das weiß ich noch nicht genau.«
»Aber sie haben Ihnen einen Schock versetzt?«
»Ich bin vor Schreck fast gestorben.«
»Wollen Sie mir vielleicht verraten, was in dem Brief stand?«
Eine Prozession von rosa und gelb gewandeten Musikern betrat den Saal und verschwand samt Instrumenten im Orchestergraben. Es war eine Schande, dass man ihre wunderschönen Kostüme nur ein paar Sekunden lang zu sehen bekam. Kurz darauf stiegen auch schon die ersten Töne aus dem Graben auf und wurden von dem ausgeklügelten Lautsprechersystem bis unter die gewölbte Decke getragen. Die ganze Höhle vibrierte. Die natürliche Akustik, ohne elektronische Verstärkung, hätte einen ungleich angenehmeren Klang produziert. Siri spürte Dtuis warmen Atem, als sie ihm ins Ohr brüllte.
»Er war vom Prüfungsausschuss.«
»Und?«
»Ich soll im Dezember in die UdSSR fliegen.«
»Sie haben bestanden?« Die Ouvertüre gelangte unvermittelt an ihr Ende, und Siris Freudenschrei zerriss die Stille. Einige Parteibonzen wandten den Kopf, aber das gemeine Volk lachte und bedachte das unsichtbare Orchester mit stürmischem Beifall. Siri genierte sich nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Am liebsten wäre er auf die Bühne gestürmt und hätte es öffentlich verkündet. Er küsste Dtui auf die Wange und hielt bis zum Schluss des Konzerts breit grinsend ihre Hand.
Die Veranstaltung dauerte bis in die Nacht. Wunderschöne vietnamesische Ballerinen in Armeeuniform drehten auf Turnschuhen Pirouetten. Akrobaten stellten mit Stühlen schier unglaubliche Dinge an. Ein Mädchen balancierte kopfüber auf einem Esel, der im Kreis lief und auf ein Stromkabel pisste, das daraufhin zu qualmen anfing. Ein kleiner Engelschor mit roten Halstüchern und Baretten schmetterte Parteilieder, die Ballerinen kamen noch einmal auf die Bühne und vollführten einen mitreißenden Tanz mit Gewehren, und ein nordvietnamesischer Popstar sang eine romantische Ballade, die dem alten Mann die Tränen in die Augen trieb.
Die letzte Nummer des Abends war ein laotischer ramwong -Tanz, der sich von der Bühne in den Saal hinunterschlängelte, wo sich Zuschauer um Zuschauer in den Zug der Tanzenden einreihte. Civilai sprang als einer der Ersten auf. Er winkte, als er Siri erblickte, der inständig hoffte, dass sein Freund seine Federboa in Vientiane gelassen hatte. Da den Zuschauern hinter der Militärabsperrung die Teilnahme an der bizarren Polonaise verboten war, blieben sie einfach, wo sie waren, und tanzten auf der Stelle. Dtui und Siri sahen einander an, wippten im Rhythmus der Musik und ahmten sich gegenseitig nach.
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