Als sie so dasaß, fiel ihr plötzlich etwas auf. Wie in jedem anderen Dorf tummelten sich das Vieh, die Babys und die Hunde in ein und demselben Staub. Die Hühner pickten den ganzen Tag nach den vielen tausend Ameisen, die zusammen kaum eine Kalorie enthielten. Das Spielen im Dreck stärkte das Immunsystem der Kinder, doch der Spielkamerad eines kleinen Jungen ließ Dtui stutzen. Ein so sonderbares Wesen hatte sie noch nie gesehen. Aus der Ferne sah es aus wie ein kleines schwarzes Schwein. Aber es war irgendwie anders als andere Schweine. Statt Füßen hatte es Pfoten. Und es besaß zwar einen Ringelschwanz, doch der wedelte hin und her. Obwohl es eigentlich hätte grunzen oder quieken müssen, kläffte es den kleinen Jungen an und hatte sichtlich Spaß an ihrem Spiel.
Sie hätte einfach fragen können. Oder näher treten, um sich zu vergewissern, dass das Ferkel Schlamm an den Füßen und noch dazu eine schwere Erkältung hatte, doch stattdessen entschloss sie sich zu gehen. Obwohl sie sich in einem animistischen Dorf inmitten eines offiziell agnostischen Landes befand, hielt sie zuvor kurz Zwiesprache mit Buddha. Sie versprach, sich nie wieder über die Gesetze der Natur lustig zu machen. Sie habe ihre Lektion gelernt.
Sie küsste Panoy auf die Wange, in der Gewissheit, dass das Mädchen sich im Falle eines Wiedersehens wohl nicht an sie erinnern würde. Sie dankte allen, obgleich niemand so recht wusste, wofür, und verließ das kleine Dorf. Ihr Mutterinstinkt war erwacht, und sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Ehemann und eine eigene Familie.
Für den Genossen Lit gab es nur einen Grund, weshalb Dr. Siri und Schwester Dtui sich noch immer in Vieng Xai aufhielten, obwohl das Rätsel des Kubaners in Beton gelöst war. Seit er seinen Bericht eingereicht hatte, war er mit den Sicherheitsvorkehrungen für das Konzert beschäftigt gewesen. Tags zuvor hatte er im Gästehaus vorbeigeschaut, doch niemand wusste, wo die beiden steckten. Als er es gegen Abend ein zweites Mal versuchte, waren sie noch immer nicht zurück. Eigentlich hätte er sich auf das bevorstehende Großereignis konzentrieren sollen, aber er konnte an nichts anderes denken als an Schwester Dtui.
Er war zu dem Schluss gelangt, dass Dr. Siri sich bereit erklärt hatte, als ihr Zeuge zu fungieren, wenn sie Lits Heiratsantrag annahm. Siri hatte angerufen und ihn gebeten, sie mit dem Jeep abzuholen. Er übertrug seinem Stellvertreter die Aufsicht über die letzten Vorbereitungen in der Konzerthöhle und fuhr mit pochendem Herzen zum Gästehaus. Als er seine Zukünftige auf der Vortreppe stehen sah, wo die Morgensonne das natürliche Rouge ihrer Wangen besonders gut zur Geltung brachte, stockte ihm der Atem. Was hatte er für eine großartige Wahl getroffen.
Doch als Siri und Schwester Dtui in seinen Jeep stiegen, war von Hochzeitsvorbereitungen mit keinem Wort die Rede. Siri bat ihn, sie nach Xam Neua zu bringen. Was ihm unter den gegebenen Umständen gar nicht passte, aber der Doktor versicherte ihm, es handele sich um eine äußerst dringliche Angelegenheit, die keinen Aufschub dulde. Da die beiden beharrlich schwiegen, träumte er im Stillen von einer Fahrt zum Zentralmarkt, um gute nordlaotische Seide für Dtuis Hochzeitskleid zu kaufen, und einem Besuch bei einer Wahrsagerin, die ihnen einen günstigen Termin für die Trauung nennen würde. Vielleicht war das so Sitte. Da er noch nie geheiratet hatte, konnte er das schwerlich wissen. Aber er war so zufrieden mit sich, dass er den Tag nicht mit Jammern und Klagen verderben wollte.
Er schöpfte erst Verdacht, als der Doktor ihn auf das Gelände des provisorischen Krankenhauses lotste und ihn bat, vor dem Büro des Direktors zu halten.
»Und jetzt?«, fragte er.
»Jetzt besuchen wir Dr. Santiago.«
Lit war empört. »Wie bitte? Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, dass Sie hierher wollten?«
»Wären Sie dann auch gekommen?«
»Ich … ich habe keine Ahnung, was ich hier soll.«
»Nein? Wie wäre es mit Rache nehmen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Das wissen Sie sogar sehr gut. Sie haben schon viel zu lange Angst vor Dr. Santiago, Genosse Lit. Es ist höchste Zeit, ihm die Stirn zu bieten.«
»Sie irren sich.«
»Ach ja? Würden Sie uns dann freundlicherweise erklären, was mit Ihrem Finger geschehen ist?«
»Ich, äh …« Er musterte Dtui im Rückspiegel. Wie würde sie darauf wohl reagieren? Würde sie den Respekt vor ihm verlieren? Ihr Gesicht verriet keinerlei Regung. Siri kletterte aus dem Jeep und zeigte auf den Schlüssel im Zündschloss. Die zuversichtliche Miene des Doktors gab Lit neuen Mut. Einen Moment lang glaubte er tatsächlich, aus dem Schatten des verfluchten Kubaners heraustreten zu können. Er stellte den Motor ab und stieg aus.
Santiago blickte nicht von seinen Papieren auf, als die drei ungebetenen Besucher in sein Zimmer kamen, doch er lächelte und sagte etwas zu Dtui.
»Er hat Sie bereits erwartet«, erklärte sie Siri. Sie trat beiseite. Ihre Rolle bei diesem Gespräch beschränkte sich auf die der Dolmetscherin. Sie würde Siris Fragen nach bestem Wissen und Gewissen übersetzen und versuchen, die Antworten des Kubaners richtig zu verstehen. Falls es zu einer Auseinandersetzung kam, würde sie sich brav heraushalten. Darauf hatten sie sich geeinigt.
Santiagos Augen funkelten missbilligend, als Lit das Büro betrat. Wieder sagte er etwas.
»Dr. Santiago findet es sehr mutig, dass Sie sich in seine Nähe wagen. Er fragt, ob Ihr Freund, der Magier – das sind Sie, Doc -, Ihnen das nötige Selbstvertrauen gegeben hat, um nach all der Zeit hier aufzukreuzen. Aber er warnt Sie: Dr. Siri wird Ihnen keine große Hilfe sein.«
Ein fahler Schatten huschte über Lits Gesicht, und allmählich ahnte Siri, welche Macht Dr. Santiago über andere Menschen besaß.
»Wenn er uns ohnehin alle zur Hölle schickt«, sagte Siri lächelnd, »hat er doch sicher nichts dagegen, wenn ich ihm meine Theorie rasch auseinandersetze. Sagen Sie ihm, er dürfe mich gern korrigieren.«
»Er will wissen, ob das wirklich nötig ist«, sagte Dtui.
»Ich möchte den Doktor um Nachsicht bitten und ersuche hiermit höflichst um ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit«, begann Siri. »Genosse Lit, wie Sie aus schmerzlicher Erfahrung wissen, ist Dr. Santiago weit mehr als nur ein glänzender Chirurg. Er ist nämlich auch und vor allem ein erfahrener Endoke-Priester. Viele Leute haben den Eindruck, dass er in dieser finsteren Kunst überaus bewandert ist. Bei Durchsicht der einschlägigen Unterlagen werden Sie feststellen, dass seine Versetzung auf diesen gottverlassenen Außenposten nichts mit seinen fachlichen Fähigkeiten zu tun hat, die ich mit keinem Wort in Abrede stellen möchte. Es war seine letzte Chance – die einzige Arbeit, die er finden konnte. Er wurde aus seinem eigenen Land geworfen, weil er eine Gefahr darstellte. Nicht wahr, Doktor?«
Dtui versuchte, den Faden nicht zu verlieren. Sie erklärte Siri, der Doktor wolle ihn nicht unterbrechen.
»Das glaube ich gern. Weil er genau weiß, dass wir jetzt zum interessanten Teil der Geschichte kommen.« Siri lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah in die spöttischen Augen seines alten Freundes. »Denn, Genosse Lit, als Odon und Isandro in dieses Land kamen, hatten sie von der Geisterwelt nicht die geringste Ahnung. Sie waren tüchtige, arbeitsame junge Männer, die einem aufstrebenden Dritte-Welt-Land ihr Können zur Verfügung stellen wollten. Sie lernten unsere Sprache und gaben sich alle Mühe, unsere Kultur zu verstehen. Sie waren nicht etwa deshalb so beliebt, weil sie die Leute verhexten, damit diese wurden wie sie selbst. Nein, sie waren beliebt, weil sie schlicht und einfach nette Jungs waren.
Einer dieser Jungs, Isandro, lernte im Krankenhaus eine Patientin kennen, die wunderschöne Tochter eines vietnamesischen Obersts. Sie hieß Hong Lan, und in den beiden Monaten, die sie im Krankenhaus bei Kilometer 8 lag und sich von ihrer schweren Krankheit erholte, verliebten sich die beiden. An ihrer Beziehung war nichts Ungehöriges. Das Mädchen war krank, und er war ihr Pfleger. Sie sprachen über Gott und die Welt und kamen sich näher, und welche Chemikalien auch immer dafür verantwortlich sein mögen, dass in einer Beziehung die Funken sprühen, bei Hong Lan und Isandro leisteten sie ganze Arbeit.
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