Sie hatten es ihm gesagt. Alle hatten es gesagt. Die Nachbarn, die Touristen und die Kinder aus der Tempelschule. Er hatte sie immer wieder gefragt, weil ihm »zwanzig Meilen« als Antwort nicht genügte. Unter zwanzig Meilen konnte er sich wenig vorstellen. »Eine halbe Ewigkeit«, »noch ein paar Tage und ein paar hundert Mückenstiche« oder »länger, als eine Leiche zum Verwesen braucht«, wäre ihm lieber gewesen. Inzwischen konnte Herr Geung ihnen die Namen sämtlicher Ortschaften nennen, durch die er auf seinem Weg gekommen war, wenn er sich nicht sogar an die Namen all derer erinnerte, die nett zu ihm gewesen waren, und an die Namen ihrer Kinder. Aber er begriff beim besten Willen nicht, was es mit den zwanzig Meilen auf sich hatte und wann er endlich im Leichenschauhaus eintreffen würde, wo in der Zwischenzeit bestimmt allerhand passiert war.
Sie hatten ihm gesagt, das spiele keine Rolle. Sie könnten ihn in den Bus setzen oder einen Lastwagen anhalten. Sobald er nach Vientiane aufbrechen wolle, sei es ein Kinderspiel, ihm eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen. Doch aus irgendeinem Grunde erstaunte es die Leute nicht allzu sehr, dass sie ihn an diesem Morgen nicht zu Hause antrafen. Es war der große Tag der Unterzeichnung des Vertrages mit den Vietnamesen, und die Regierung hatte einen zweitägigen Feiertag ausgerufen. Der Vater konnte ihnen nicht sagen, wohin sein genialer Sohn verschwunden war, und in seinem Suff schien es ihn auch nicht sonderlich zu interessieren.
Geung war in aller Frühe losmarschiert. Die Sonne stand hinter seiner linken Schulter, und er wanderte am Straßenrand entlang. Es war sicherer, zu Fuß zu gehen. Immer wenn ihn ein Fahrzeug mitgenommen hatte, war es in die falsche Richtung gefahren. Das gab nur unnötige Scherereien. Nein, von Autos und Lastwagen hatte Herr Geung die Nase voll. Er war bereit für seine letzte Prüfung. Die Schulter tat ihm nicht mehr weh. Seine Blasen waren abgeheilt, seine Muskeln ausgeruht. Seine Haut hatte sich von seinem Sonnenbrand erholt, und er konnte wieder hören.
Sein Gewissen plagte ihn, weil er so lange in Thangon geblieben war. Der alte Mann, sein Vater, betrübte ihn, auch wenn er nicht recht wusste, weshalb. Eine innere Stimme hatte ihm zum Bleiben geraten. Es war eine andere Stimme als jene, die ihn unablässig an sein Versprechen und seine Verpflichtungen erinnerte. Die vergangenen paar Tage hatten Geung verwirrt. Er wusste nicht, auf welche Stimme er hören sollte. Dann kehrte Dtui zurück. Er war außer sich vor Freude. Sie half ihm auf die Sprünge.
Sie erinnerte ihn an das, was man Liebe nennt. Darüber sprach sie oft und gern. Sie erklärte ihm, gerade in Zeiten, in denen es nahezu unmöglich scheine, jemanden zu lieben – Zeiten, in denen einem eher nach Hass und Ablehnung zumute ist -, gerade in diesen Zeiten sei die Liebe bitter nötig. Sie erklärte ihm, sein Vater habe seine Liebe verdient. Er müsse sie sich nicht erarbeiten. Er gehöre schließlich zur Familie, und in einer Familie bekämen alle ihren Anteil Liebe, allein weil sie verwandt seien. Geung fragte sich, wann er seinen Anteil erhalten würde. Aber vielleicht musste man ja erst etwas geben, um etwas zu bekommen. Seine Vater hatte nichts. Das war selbst Geung nicht entgangen. Da konnte er bestimmt eine Kleinigkeit gebrauchen. Darum hatte Geung seinen betrunkenen Vater am Vorabend der letzten Etappe seines langen Marsches auf die Stirn geküsst und ihm gesagt, dass er ihn liebte.
Der verwirrte Mann hatte seinen schwachsinnigen Sohn angewidert von sich gestoßen und die zärtliche Geste weggewischt wie ein schleimiges Insekt. Er warf seinem Sohn Dinge an den Kopf, die ihn hätten treffen können, ihr Ziel jedoch verfehlten. Geung erklärte ihm, wie stolz er auf seinen intelligenten Vater sei, der ihn einmal monatlich besuche, um ihn mit Neuigkeiten zu versorgen und sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen. Als er sich schließlich schlafen legte, sah er dem Alten an, dass ihm das zu denken gegeben hatte. Er vergoss sogar die eine oder andere Träne, aber das mochte am Reiswhisky liegen.
Mit gestärktem Selbstbewusstsein ging Geung weiter, in der sicheren Gewissheit, dass er schon bald seine vertraute Umgebung wiedersehen würde. Er hoffte, dass die Übelkeit, die immer wieder in ihm aufstieg, nachlassen würde, doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Auch seine Kopfschmerzen wollten einfach nicht vergehen. Fünf Tage war es her, dass ihn die Dengue-Mücke gestochen hatte, und heute würde das Fieber kommen. Das Virus in seinem Blut hatte sich vermehrt, und langsam schwoll sein Zahnfleisch an.
In Vientiane wurde ein Federhalter einmal kurz geschüttelt, um die Tinte zum Fließen zu bringen, und setzte sodann mit leisem Kratzen die Namen sämtlicher Delegierten unter den Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, der den Laoten weitere fünfzig Jahre Knechtschaft garantierte. Noch bevor die Tinte auf dem Pergament getrocknet war, wurden die Anwesenden in Militärtransportern zum Flughafen chauffiert, daselbst in Helikopter der Luftwaffe verladen und nach Houaphan geflogen. Dort wurden sie königlich bewirtet (auch wenn dieses Adverb niemand auszusprechen wagte). Gegen sieben Uhr abends entschieden sie, welches graue Safarihemd sie anziehen sollten, genehmigten sich einen letzten Cocktail und gingen zu Fuß zur Konzerthöhle, um sich die spektakulären Darbietungen vietnamesischer Künstler anzusehen.
Von alldem ahnte Herr Geung natürlich nichts. Er wusste nur, dass das Leichenschauhaus seit Gott weiß wie vielen Tagen nicht gefegt worden war. Die Küchenschaben bevölkerten vermutlich den Seziersaal, vor der Tür stapelten sich die Leichen, und das alles nur, weil Herr Geung sein Wort gebrochen hatte. Unverzeihlich. Vollkommen unverzeihlich. Welche Strafe ihn auch erwarten mochte, er hatte sie verdient. Er sank auf die Knie und erbrach sich in die schlanke Rutenhirse am Straßenrand.
19
EIN IRRTUM KOMMT SELTEN ALLEIN
Heute fand das Konzert statt. Obwohl sie den Täter schon am Abend zuvor hätten dingfest machen können, kamen Siri und Dtui überein, noch einen Tag zu bleiben und weitere Ermittlungen anzustellen, um auch die letzten Zweifel auszuräumen. Außerdem erwartete Siri einen wichtigen Anruf aus Vientiane. Die Leiterin des Gästehauses war am Boden zerstört, als sie erfuhr, dass der alte Arzt und die dicke Krankenschwester noch da waren und zwei wertvolle Zimmer belegten. Zum Glück hatten sie das »Beweisstück« fortgeschafft, denn sie wusste nicht, wie sie dem Genossen Khong aus Vientiane das hätte erklären sollen.
Am Vortag hatte Dtui die kleine Panoy in ihr Dorf zurückgebracht. Damals hatte die große Landflucht noch nicht eingesetzt, und das Wort »Nachbarn« bedeutete mehr als nur »die Leute nebenan«. Gegenüber von Panoys Mutter wohnte eine Frau, die durch denselben Konflikt zur Witwe geworden war, der Panoys Vater das Leben gekostet hatte. Sie nahm Dtui das Mädchen ab, als stünde es gänzlich außer Frage, wo es leben und aufwachsen würde. Ohne große Umstände hatte das Dorf die Lücke in Panoys Leben ausgefüllt wie weiße Blutkörperchen, die eine Wunde schließen, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Ohne Debatte, ohne Diskussion.
Dtuis Bewunderung für diese Menschen kannte keine Grenzen. Ihre Mutter war einst eine von ihnen gewesen. Auch Dtui war in einem solchen Dorf zur Welt gekommen, hatte aber keinerlei Erinnerung daran. Dies war ihr Land. Und dies war ihr Volk: freundliche, selbstlose, ehrliche Menschen. Neunzig Prozent aller Laoten bestellten den Boden und setzten sich füreinander ein. Dtui saß unter einer Markise auf dem Platz inmitten dieses Dreißig-Hütten-Dorfes und sah, was aus ihrem Land hätte werden können, wenn es über sich selbst hätte bestimmen dürfen.
Die Dorfkinder hatten sogleich erkannt, dass Panoy noch nicht wieder ganz gesund war, und bezogen sie behutsam in ihre Spiele ein. Die Leute nickten und lachten über einfache Dinge. Sie kamen mit Süßigkeiten und Getränken für die nette Krankenschwester, die dieses Kind des Dorfes den Fängen des Todes entrissen hatte. Obwohl alle beschäftigt waren, wirkten sie ungemein entspannt. Sie alle hatten Zeit für ein Schwätzchen mit Dtui, und wenn ihnen keine Frage einfiel, setzten sie sich einfach zu ihr und hielten ihre Hand.
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