Santiago fragte Dtui, woher der Doktor all das wisse.
»Ich habe mich gestern Abend angeregt mit Odon unterhalten«, antwortete Siri lächelnd. »Sagen Sie ihm, er würde sich wundern, wie gut sich zwei Männer, die keine gemeinsame Sprache sprechen, mit Hilfe von Händen und Füßen und einem spitzen Stock zu verständigen wissen.«
Genüsslich übersetzte Dtui seine Worte.
Der Leichenbeschauer fuhr fort. »Die Kubaner dachten, wenn Santiago wirklich ein so großer Priester sei, müsse er mit dieser Zeremonie vertraut sein. Vielleicht würde er sich ja bereiterklären, sie zu vollziehen, als Gegenleistung für ihr Schweigen. Aber Santiago weigerte sich, sie zu vollziehen. Er willigte jedoch ein, Odon darin zu unterweisen. Die Kratzer gehörten wahrscheinlich zu den Vorbereitungen des Rituals. Aber vielleicht ist der gute Doktor ja so freundlich, uns die Zeremonie zu erläutern, damit wir uns ein genaueres Bild davon machen können, was in der fraglichen Nacht passierte.«
Santiago hielt erschrocken inne. Er war damit beschäftigt gewesen, den Deckel der Teekiste möglichst unbemerkt zu öffnen. Trotzdem willigte er ein, die Geheimnisse der Zeremonie preiszugeben. Es wunderte Siri, dass er diese mutmaßlich streng geheimen Informationen so bereitwillig weitergab. Doch der Kubaner ließ kein noch so nebensächliches Detail aus und schöpfte mit sichtlichem Stolz aus dem reichen Schatz seines Wissens. Wie es schien, mussten die Herzen der Liebenden frisch sein, damit das Ritual seine Wirkung tun konnte. Am besten sei es, wenn die noch schlagenden Herzen bei lebendigem Leib herausgeschnitten würden, aber das sei den meisten Leuten etwas zu blutig. In jedem Falle müsse man die Leichen nach dem Exitus so lange wie möglich frisch halten.
»Daher das nasse Grab«, folgerte Siri. »Aber warum?«
Santiago erklärte Dtui, dass das Paar in der Ewigkeit genau so aussehe wie zu dem Zeitpunkt, da die Verschmelzung ihrer Seelen vollzogen worden sei. Und da selbst die Untoten so etwas wie ästhetisches Empfinden besäßen, sähen sie es ungern, wenn der oder die Geliebte sich im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung befindet.
In den drei Nächten vor der Zeremonie rührt der Priester eine spezielle Paste an. Nur die allerbesten Priester kennen die erforderlichen Zutaten und Beschwörungsformeln. Der Kubaner prahlte mit seinen Fähigkeiten und nannte sich einen führenden Vertreter der schwarzen Kunst.
Siri unterbrach Dtui in ihrer Übersetzung. »Bitte danken Sie dem Doktor für seine Werbung in eigener Sache. Aber es wäre nett, wenn er auf die fragliche Nacht zurückkommen könnte.«
Santiago lachte.
»Was ist denn so komisch?«, wollte Lit von Dtui wissen.
Sie wand sich auf ihrem Stuhl, bevor sie ihm eine Antwort gab. »Er sagt, er könne uns alles verraten, was wir wissen wollen, weil …«
»Weil?«
»Weil wir drei uns an dieses Zusammentreffen ohnehin nicht erinnern werden. Er sagt, morgen früh bei Sonnenaufgang werden wir nicht einmal mehr wissen, wer wir sind.« Dtui und Lit machte diese Ankündigung sichtlich Angst. Nur Siri konnte ihr etwas Komisches abgewinnen.
»Darauf freue ich mich jetzt schon«, sagte er unwirsch. »Aber dieses kleine Kunststück haben Civilai und ich schon tausend Mal fertiggebracht. Mit einer Flasche Reiswhisky ist das wahrhaftig kein Problem. Und nun zur Zeremonie.«
Santiago gratulierte dem Doktor zu seiner Kaltschnäuzigkeit angesichts des grausigen Endes, das er in Kürze nehmen werde. Er erklärte sich bereit, das Ritual in allen Einzelheiten zu schildern. Der Priester, sagte er, entnimmt den Liebenden das Herz. Dann schneidet er es auf dem Altar in kleine Stücke und vermischt diese in einem Mörser mit der heiligen Paste. Dabei skandiert er immer wieder die entsprechende Beschwörungsformel, immer wieder, bis er in eine tiefe Trance fällt. Er nimmt nichts mehr wahr, außer den Handlungen, die es zu vollziehen gilt. Auf dem Altar, demselben Altar, auf dem er die Herzen zerkleinert hat, modelliert er aus der Paste nun einen Vogel. Einen fliegenden Vogel. Der Priester braucht kein großer Künstler zu sein. Der grobe Umriss eines Vogels genügt vollauf. Dann wird der Vogel verhüllt. Niemand darf ihn sehen oder gar berühren, damit er ein Eigenleben entwickeln und in die Ewigkeit davonfliegen kann. Dann werden die Liebenden für immer eins sein.
»Und wie lange dauert dieser Vorgang?«, fragte Siri.
Santiago überlegte einen Augenblick. Das sei schwer zu sagen. Wochen? Monate? Manchmal sogar Jahre. Und manchmal klappe es überhaupt nicht. Das hänge allein von der Willensstärke der Liebenden ab. Dann setzte Santiago seufzend seine Brille ab, als habe er genug gesagt. Plötzlich war er wie ausgewechselt. Er nahm die Teekiste aus der Schublade und stellte sie vor sich auf den Schreibtisch. Mit schroffer Stimme und blutunterlaufenen Augen knurrte er seine Gäste an.
Ein Zittern schlich sich in Dtuis Stimme. »Er … er sagt, es habe ihn sehr gefreut, aber jetzt müssten wir leider gehen.« Sie fiel aus ihrer Dolmetscherrolle. »Doc, die Sache ist mir irgendwie nicht ganz geheuer. Ich finde, wir sollten schnellstens …«
Bevor sie ihre Warnung zu Ende bringen konnte, hatte Santiago die Kiste mit der linken Hand ergriffen und schwang sie in hohem Bogen durch die Luft. Eine Wolke grauen Pulvers hüllte die drei Gäste ein. Der Geruch toter Tiere und der Gestank verdorbener Gewürze stieg ihnen in die Nase. Ein lang gedehnter, wütender Singsang drang zwischen den nikotingelben Zähnen des Kubaners hervor. Obwohl das Pulver ihnen in den Augen brannte, sahen sie, wie Santiago sich rücklings gegen die Wand presste und die Arme einem unsichtbaren Gott entgegenreckte.
Dtui hatte eigentlich erwartet, dass ihr Hörner sprießen, ihre Haut hässliche Blasen werfen und sie ein Gefühl des Grauens überkommen würde, musste aber lediglich heftig niesen. Auch Lit nieste. Siri tauchte aus der Wolke auf. Er hielt sich Mund und Nase zu und starrte den Kubaner an, der jetzt hinter seinem Schreibtisch auf dem Boden lag.
»Sie können ihm sagen, dass er mit diesem Unfug aufhören soll, Dtui. Es hat nicht funktioniert«, sagte Siri.
»Aber warum nicht?«, fragte Lit, zog die Pistole aus seinem Gürtel und richtete sie auf den verwirrten Kubaner.
»Weil es noch nie funktioniert hat«, erklärte Siri. »Unser guter Dr. Santiago ist nämlich ein Schwindler – ein Scharlatan. Er ist nur in seiner Einbildung der große Endoke-Hohepriester. Mit seinem Hokuspokus könnte er noch nicht einmal eine Flasche Lao-Bier zum Schäumen bringen.«
»Aber das ist unmöglich. Sie haben doch selbst gesagt, die Kubaner hätten ihn ausgewiesen, weil …«
»Weil er ihnen auf die Nerven ging und nicht etwa wegen seiner angeblichen Zauberkräfte. Sie hielten ihn schlicht für verrückt. Seine Experimente wirkten sich negativ auf seine Arbeit aus. Niemand stellt einen Chirurgen ein, und sei er noch so talentiert, der allen Ernstes glaubt, dass die bösen Geister ihm das Skalpell führen. Dtui, würden Sie ihm bitte auf die Beine helfen, bevor er Gelenkstarre bekommt?«
Dtui half dem Doktor auf seinen Stuhl zurück. Er murmelte noch immer einen alten Hexenfluch und konnte es nicht fassen, dass seine potenziellen Opfer nach wie vor bei klarem Bewusstsein waren.
»Ich will gar nicht leugnen, dass er die schwarze Kunst studiert hat«, fuhr Siri fort. »Im Gegenteil. Er ist vermutlich sogar ein veritabler Experte für die Riten und Rituale von Santería und Palo Mayombe. Aber es kann sich nun einmal nicht jeder hergelaufene José zum Großmagier stilisieren, ebenso wenig wie ich mich mir nichts, dir nichts zum Mr. Universum ernennen kann. Dazu braucht es schon ein wenig mehr. Nämlich eine unmittelbare Verbindung zur Geisterwelt. Und damit kann der gute Santiago, trotz seines nicht mehr ganz jugendlichen Eifers, leider nicht dienen.«
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