Poirot machte eine ungeduldige Bewegung. »Unglaublich! Der muß doch gefunden werden.«
»Das dachten wir auch. Wir starteten eine großangelegte Suchaktion. Dieser Teil Frankreichs steht unter militärischer Kontrolle. Wir waren überzeugt, daß der Wagen nicht lange unbemerkt bleiben würde. Die französische Polizei, unsere Scotland-Yard-Leute und das Militär setzten alle Hebel in Bewegung. Es ist, wie Sie sagen, unglaublich - aber der Wagen wurde nicht gefunden!«
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und ein junger Offizier trat ein. Er übergab Lord Estaire einen versiegelten Umschlag.
»Das ist gerade aus Frankreich angekommen, Sir. Ich bringe es auftragsgemäß hierher.«
Der Minister riß ihn hastig auf und stieß einen Ausruf des Erstaunens aus. Der Offizier zog sich zurück. »Endlich eine Nachricht! Man hat den zweiten Wagen gefunden, den Sekretär Daniels, betäubt, geknebelt und gefesselt auf einer abgelegenen Farm in der Nähe von C... Er erinnert sich nur, daß ihn jemand rücklings angefallen und ihm etwas auf den Mund gepreßt hat. Er hatte vergeblich versucht, sich zu befreien.« »Und weiter wurde nichts gefunden?« »Nein.«
»Nicht die Leiche des Premierministers? Dann besteht ja noch Hoffnung. Aber es ist sonderbar. Nachdem man heute morgen versucht hat, ihn zu erschießen, macht man sich jetzt so viel Mühe, ihn am Leben zu halten?« Dodge schüttelte den Kopf. »Eines steht fest: Die Entführer sind entschlossen, mit allen Mitteln zu verhindern, daß er an der Konferenz teilnimmt.«
»Wenn es menschenmöglich ist, wird der Premierminister an der Konferenz teilnehmen«, sagte Poirot. »Gebe Gott, daß es nicht schon zu spät ist. Jetzt, meine Herren, erzählen Sie mir alles - von Anfang an. Ich muß auch über diese Attentatsgeschichte Bescheid wissen.«
»Letzte Nacht ist der Premierminister, begleitet von einem seiner Sekretäre, Captain Daniels ... « »Demselben, der ihn nach Frankreich begleitet hat?« »Ja. Wie ich sagte, fuhren sie mit dem Auto nach Windsor - der Premierminister hatte eine Audienz im königlichen Schloß. Heute früh kehrte er in die Stadt zurück, und unterwegs fand der Mordversuch statt.« »Einen Augenblick, bitte. Wer ist dieser Captain Daniels? Haben Sie seine Personalakten?«
Lord Estaire lächelte. »Ich dachte mir, daß Sie mir die Frage stellen würden. Wir wissen nicht sehr viel von ihm. Er stammt aus keiner besonderen Familie. Er hat in der englischen Armee gedient und ist ein außergewöhnlich tüchtiger Sekretär und außergewöhnlich sprachbegabt. Ich glaube, er spricht sieben Sprachen. Aus diesem Grund hat ihn der Premierminister für die Fahrt nach Frankreich ausgewählt.« »Hat er irgendwelche Verwandte in England?« »Zwei Tanten. Eine Mrs. Everard, die in der Nähe von Hampstead, und eine Miss Daniels, die bei Ascot lebt.« »Ascot, das ist doch nahe bei Windsor?« »Dieser Punkt ist schon geprüft worden. Aber ohne greifbares Ergebnis.«
»Sie betrachten also Captain Daniels als über jeden Verdacht erhaben?« Eine gewisse Bitterkeit war in Lord Estaires Stimme, als er erwiderte: »Nein, Monsieur Poirot. Heutzutage muß man leider zögern, ehe man irgend jemand als über jeden Verdacht erhaben bezeichnen kann.«
»Tres bien. Ich verstehe, Mylord. Der Premierminister steht im allgemeinen unter so scharfem polizeilichen Schutz, daß jeder Angriff auf ihn ausgeschlossen erscheint.« Lord Estaire neigte den Kopf. »Hinter dem Wagen des Premierministers folgte ein anderer Wagen, in dem Detektive in Zivil saßen. Mr. McAdam wußte nichts von dieser Vorsichtsmaßnahme. Er ist ein äußerst furchtloser Mann und würde diese Maßnahme kategorisch ablehnen. Aber natürlich trifft die Polizei ihre eigenen Anordnungen. Der Chauffeur des Premiers, O'Murphy, ist ein Mann vom C.I.D.« »O'Murphy? Das ist ein irischer Name?« »Ja, er ist Ire.«
»Aus welchem Teil von Irland?« »Grafschaft Clare, glaube ich.« »Tiens! Aber fahren Sie fort, Mylord.« »Der Premier fuhr nach London. Es war ein geschlossener Wagen. Der zweite Wagen folgte wie gewöhnlich. Aber unglücklicherweise und aus unbekannter Ursache wich der Wagen des Ministers von der Hauptstraße ab ... « »Die Straße machte eine Kurve?« unterbrach ihn Poirot. »Ja - aber woher wissen Sie das?« »Oh, c'est evident! Fahren Sie fort!«
»Der Polizeiwagen, der nicht bemerkt hatte, daß der Wagen des Premiers von der Hauptstraße abgebogen war, fuhr brav weiter. Schon nach kurzer Fahrt auf der unbelebten Straße wurde der Wagen des Premierministers von einer Bande maskierter Männer aufgehalten. Der Chauffeur... « »Dieser brave O'Murphy«, murmelte Poirot gedankenvoll. »Der Chauffeur, der einen Moment den Kopf verloren hatte, trat auf die Bremsen. Der Premierminister steckte seinen Kopf aus dem Fenster. Sofort fiel ein Schuß - und dann noch einer. Der erste streifte seine Wange, und der zweite ging glücklicherweise daneben. Der Chauffeur, der die Gefahr jetzt begriff, gab Gas und zwang die Bande dadurch, die Straße freizugeben.«
»Das hätte aber bös ausgehen können!« rief ich schaudernd. »Mr. McAdams machte nicht viel Aufhebens von der leichten Wunde, die er hatte. Es sei nur ein Kratzer, sagte er. Er ließ sich in einem ländlichen Krankenhaus verbinden - ohne seine Identität zu enthüllen - und fuhr von dort aus sofort nach dem Bahnhof Charing-Cross, wo ihn ein Sonderzug nach Dover erwartete. Nachdem Captain Daniels der Polizei einen genauen Bericht erstattet hatte, reiste der Premier nach Frankreich ab. In Dover ging er an Bord des wartenden Zerstörers. In Boulogne, wie Sie ja wissen, wartete der falsche Wagen.« »Ist das alles, was Sie mir berichten können?« »Ja.«
»Und Sie haben nichts vergessen, Mylord?« »Da ist noch eine etwas sonderbare Sache...« »Ja?«
»Der Wagen des Premierministers kehrte vom Bahnhof Charing-Cross nicht zurück. Die Polizei wollte O'Murphy verhören und leitete sofort eine Suchaktion ein. Man fand den Wagen; er stand vor einem kleinen Restaurant in Soho, das als Treffpunkt feindlicher Agenten bekannt ist.« »Und der Chauffeur?« »Der Chauffeur konnte nirgends gefunden werden. Auch er ist verschwunden.« »Also«, sagte Poirot nachdenklich, »es gibt zwei Verschwundene: den Premierminister in Frankreich und O'Murphy in London.« Er sah Lord Estaire scharf an. Der Lord machte eine verzweifelte Geste. »Ich kann nur sagen, Monsieur Poirot, wenn mir gestern irgend jemand gesagt hätte, O'Murphy sei ein Verräter, ich hätte ihn glatt ausgelacht.« »Und heute?«
»Heute weiß ich nicht mehr, was ich davon denken soll.« Poirot nickte ernsthaft. Er warf einen Blick auf seine alte Uhr. »Habe ich völlig freie Hand? Messieurs -ich meine, in jeder Beziehung? Ich muß unbehindert überall Zutritt haben, wenn es mir wichtig erscheint.«
»Natürlich. In einer Stunde verläßt ein Sonderzug Dover mit Scotland-Yard-Leuten. Ein Offizier und einige C.I.D.-Beamte werden zu Ihrer Verfügung stehen. Ist das genügend?« »Ja. Noch eine Frage, bevor Sie gehen, meine Herren: Was veranlaßte Sie, ausgerechnet zu mir zu kommen? Ich bin in London doch kaum bekannt.«
»Wir kamen auf die ausdrückliche Empfehlung und den Wunsch eines sehr bedeutenden Mannes Ihres eigenen Landes.«
»Wie? Mein alter Freund, der Präfekt...?« Lord Estaire schüttelte den Kopf. »Er ist noch bedeutender als der Präfekt.« »Nun, Poirot, was halten Sie von der Sache?« rief ich ungeduldig, nachdem sich die Tür hinter den hohen Herren geschlossen hatte.
Mein Freund war eifrig beschäftigt, mit schnellen Bewegungen einen winzigen Koffer zu packen. Er schüttelte gedankenvoll den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mein Gehirn scheint zu versagen.«
»Warum ihn entfuhren, wenn ein Schlag auf den Kopf auch genügt hätte?« überlegte ich laut.
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