Poirot sah auf seine altmodische Uhr. Er murmelte vor sich hin: »Ja, es ist noch Zeit - gerade genug Zeit.« Dann blickte er auf und verbeugte sich höflich vor dem jungen Fliegeroffizier. »Ich danke Ihnen, Monsieur. Aber nicht ich bin Ihr Passagier. Es ist dieser Herr dort.«
Er trat einen Schritt zur Seite und ließ eine große Gestalt aus der Dunkelheit auf uns zukommen. Es war der zweite männliche Gefangene, der mit Poirot in dem anderen Wagen gesessen hatte. Als das Licht auf sein Gesicht fiel, blieb mir vor Überraschung die Luft weg.
ES WAR DER PREMIERMINISTER
»Um alles in der Welt, erzählen Sie mir«, rief ich ungeduldig, als Poirot, Norman und ich zurück nach London fuhren. »Wie um Himmels willen haben Sie es fertiggebracht, ihn nach England zurückzuschmuggeln?« »Das war gar nicht notwendig«, sagte Poirot trocken. »Der Premierminister hat England nie verlassen. Er wurde schon auf dem Weg von Windsor nach London entführt.« »Wie?« »Ich werde Ihnen alles erklären. Der Premierminister saß in seinem Auto, neben ihm sein Sekretär. Plötzlich wird ihm ein chloroformiertes Tuch vor das Gesicht gehalten...« »Aber von wem?«
»Von dem klugen, sprachgewandten Captain Daniels. Als der Premierminister bewußtlos ist, nimmt Daniels das Sprechrohr und weist O'Murphy an, die nächste Abzweigung nach rechts zu nehmen. Der völlig ahnungslose Chauffeur tut das auch. Auf diesem unbefahrenen Weg steht ein großes Auto, das anscheinend eine Panne hat. Sein Fahrer macht O'Murphy Zeichen, anzuhalten. Es fängt schon an zu dämmern. O'Murphy fährt ganz langsam. Der Fremde kommt näher. Daniels lehnt sich zum Fenster hinaus. Und nun wird - wahrscheinlich mit Hilfe eines schnell wirkenden Betäubungsmittels - zum Beispiel Äthylchlorid - der Chloroformtrick wiederholt. Wenige Minuten später werden die bewußtlosen Männer aus dem Wagen gezerrt und in den anderen Wagen gebracht. Zwei andere Männer nehmen ihre Plätze ein.« »Unmöglich!«
»Pas du tout! Haben Sie noch nie in einer Musikhalle einen Imitator gesehen, der berühmte Leute nachmacht? Der Premierminister von England ist viel leichter zu imitieren als, sagen wir mal Mr. John Smith aus Clapham. Niemand beachtete
O'Murphys Double, und zum Zeitpunkt der Abfahrt des Premierministers hatte es sich schon verdrückt. Er fährt geradewegs von Charing-Cross zu dem Treffpunkt seiner Freunde. Er geht als O'Murphy hinein und kommt als anderer Mensch wieder heraus. O'Murphy ist verschwunden und läßt eine ausgesprochen verdachterregende Spur zurück.« »Aber der Mann, der den Premierminister zu spielen hatte, mußte doch von jedermann gesehen werden!« »Von niemand, der ihn genauer kannte. Daniels schützte ihn so gut wie möglich vor jedem Kontakt. Außerdem war ja sein Gesicht verbunden, alle ungewöhnlichen Reaktionen hätte man notfalls dem Schock zugeschrieben, den er durch den Mordversuch erlitten hatte. Außerdem schont Mr. McAdam vor großen Ansprachen seine Stimme. Bis Frankreich ließ sich dieses Täuschungsmanöver ganz einfach durchführen. Dort wurde es allerdings undurchführbar - also läßt man den Premierminister verschwinden. Überstürzt fahren englische Polizeibeamte nach Frankreich, und niemand nimmt sich die Mühe, die Details der ersten Attacke genauer nachzuprüfen. Um das Märchen der Entführung in Frankreich glaubhafter zu machen, wird Daniels fachgemäß geknebelt und betäubt.« »Und der Mann, der die Rolle des Premierministers gespielt hat?«
»Entledigt sich seiner Verkleidung. Er und der falsche Chauffeur konnten in Verdacht geraten und verhaftet werden, aber niemand weiß, was für eine Rolle die beiden gespielt haben, und wahrscheinlich hätte man sie sehr bald aus Mangel an Beweisen wieder entlassen.« »Und der wirkliche Premierminister?« »Er und O'Murphy wurden geradewegs von >Mrs. Everard<, der sogenannten >Tante< von Daniels nach Hampstead gefahren. In Wirklichkeit ist diese Dame eine Frau Bertha Ebenthai, die von der Polizei schon eine geraume Zeit gesucht wird. Es ist ein recht wertvolles kleines Geschenk, das ich da der Polizei gemacht habe - von Daniels gar nicht zu reden! Oh, es war ein sehr kluger Plan, aber der sprachbegabte Mann hat nicht mit der Klugheit von Hercule Poirot gerechnet!« Diesmal verzieh ich meinem Freund seine Anwandlung von Eitelkeit. Ich fragte; »Wann fingen Sie an, der Sache auf den Grund zu kommen?«
»Als ich anfing, richtig zu arbeiten - als ich anfing nachzudenken! Ich konnte mit diesem Mordanschlag nichts anfangen -erst als ich mir klarmachte, daß das einzige Ergebnis des Mordversuchs die Tatsache war, daß der Premierminister mit verbundenem Gesicht nach Frankreich fahren mußte, da begann ich zu begreifen! Und als ich von allen Landkrankenhäusern zwischen Windsor und London bestätigt bekam, daß niemand, auf den meine Beschreibung paßte, an diesem Morgen das Gesicht verbunden bekommen hatte - da war ich sicher! Alles Weitere war für mich nur noch ein Kinderspiel!« Am nächsten Morgen zeigte mir Poirot ein Telegramm, das er gerade erhalten hatte. Es hatte keinen Absender und trug keine Unterschrift. Es lautete: Rechtzeitig. Noch am selben Tag brachten die Abendzeitungen einen Bericht von der Konferenz. Sie erwähnten besonders die große Ovation, die man Mr. David McAdam dargebracht hatte nach seiner anfeuernden Rede, die einen tiefen und anhaltenden Eindruck gemacht habe.
Das Verschwinden Mister Davenheims
Poirot und ich erwarteten unseren alten Freund, Inspektor Japp von Scotland Yard, zum Tee. Poirot war gerade damit fertig, die Tassen und Teller, die unsere Wirtin stets mehr auf den Tisch schmetterte als stellte, sorgfältig hinzustellen. Er betrachtete die silberne Teekanne, seufzte und polierte sie mit einem seidenen Taschentuch. Der Kessel stand auf dem Kocher, daneben eine kleine Emaillekanne mit dicker, süßer Schokolade, etwas, das mehr nach Poirots Geschmack war als das, war er »euer englisches Gift« zu nennen pflegte. Vor dem Haus ertönte eine Hupe, und wenige Minuten später betrat Japp das Zimmer.
»Hoffentlich komme ich nicht zu spät«, sagte er, als er uns begrüßte. »Ich bin bis jetzt durch ein Gespräch mit Miller, dem Mann, der den Davenheim-Fall bearbeitet, festgehalten worden.«
Ich spitzte die Ohren. Die Zeitungen berichteten seit drei Tagen über das merkwürdige Verschwinden von Mr. Davenheim, dem Seniorpartner von Davenheim & Salmon, den sehr bekannten Bankiers und Finanziers. Am vergangenen Samstag hatte er sein Haus verlassen und war seither nicht mehr gesehen worden. Ich hoffte, aus Japp einige interessante Details herauszulocken. »Man sollte doch annehmen«, bemerkte ich, »daß es heutzutage beinahe unmöglich ist, einfach zu verschwinden.« Poirot schob seinen Teller mit Brot und Butter ein wenig zurück und fragte: »Drücken Sie sich doch genauer aus, mein Freund. Was meinen Sie mit verschwinden!« »Wie viele Arten von Verschwinden gibt es denn bei Ihnen?« lachte ich. Japp lachte auch. Poirot sah uns beide ärgerlich an. »Verschwinden wird in drei Kategorien eingeteilt: erstens — und das ist das normalste -, das freiwillige Verschwinden. Zweitens, der viel mißbrauchte Verlust des Erinnerungsvermögens - zwar selten vorkommend, aber gelegentlich doch echt. Drittens Mord, verbunden mit einem mehr oder weniger erfolgreichen Verschwindenlassen der Leiche. Wollen Sie vielleicht behaupten, daß diese drei Kategorien nicht auf den Fall Davenheim angewandt werden können?« »Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich. Sie könnten zwar Ihr Gedächtnis verlieren, aber irgend jemand würde Sie bestimmt erkennen - und in diesem Falle dürfen Sie nicht vergessen, daß Davenheim ein sehr bekannter Mann ist. Dann ->Leichen< kann man nicht in Luft auflösen. Früher oder später tauchen sie wieder auf, an einsamen Plätzen versteckt oder in Koffern. Mord kommt immer ans Tageslicht. Genauso, wie ein Defraudant fast immer gefaßt wird. Will er ins Ausland flüchten, wird es für ihn besonders schwer, denn alle englischen Häfen und Eisenbahnstationen werden überwacht. Sein Steckbrief erscheint in der Zeitung. Unterzutauchen ist für ihn beinahe unmöglich.«
Читать дальше
Конец ознакомительного отрывка
Купить книгу