»Einen Moment, bitte. Haben Sie unter Mr. Opalsens Sachen je eine Karte wie diese gesehen?«
Er hielt ihr eine einfache weiße Karte aus glänzendem Papier hin. Das Mädchen betrachtete sie aufmerksam. »Nein, Sir, eine solche Karte habe ich nicht gesehen. Aber der Diener hat mehr im Zimmer des Herrn zu hin.« »Ach so. Vielen Dank.« Poirot nahm die Karte wieder an sich. Das Mädchen ging hinaus. Er schien immer noch scharf nachzudenken, dann nickte er kurz und sagte: »Läuten Sie bitte dreimal für den Diener, Hastings.«
Ich läutete, die Neugier fraß mich beinahe auf. Inzwischen hatte Poirot den Papierkorb ausgeleert und sah schnell den Inhalt durch. Einen Augenblick später kam auch schon der Diener. Poirot zeigte auch ihm die Karte und richtete dieselbe Frage an ihn. Nein, der Diener hatte nie eine derartige Karte bei Mr. Opalsen gesehen. Poirot bedankte sich bei ihm für die Auskunft, und der Diener zog sich etwas unwillig zurück, nicht ohne einen fragenden Blick auf den umgestülpten Papierkorb zu werfen. Er hörte auch noch Poirots gedankenvolle Bemerkung: »Und das Halsband war hoch versichert...« »Poirot!« rief ich. »Ich sehe ...«
»Gar nichts sehen Sie«, erwiderte er ruhig. »Wie gewöhnlich sehen Sie gar nichts, mein Freund! Es klingt unglaublich - aber es ist so. Lassen Sie uns jetzt in unser eigenes Appartement zurückkehren.«
Dort angekommen, zog sich Poirot in Windeseile um. »Ich fahre heute nacht nach London«, erklärte er. »Es ist sehr wichtig!«
»Was?«
»Absolut. Die wirkliche Denkarbeit (ah, diese tapferen kleinen grauen Gehirnzellen) ist getan. Ich fahre, um mir die Bestätigung zu beschaffen. Ich werde sie finden! Hercule Poirot zu täuschen, ist unmöglich!« »Manchmal kommen Sie mir vor wie ein Pfau«, bemerkte ich bissig.
»Warum so böse, ich bitte Sie, mon ami? Ich hoffe sehr, daß Sie mir einen Freundschaftsdienst erweisen werden.« »Natürlich«, sagte ich, schon wieder versöhnt. »Was kann ich für Sie tun?«
»Würden Sie mir bitte den Ärmel des Jacketts, das ich gerade ausgezogen habe, ausbürsten? Er hat etwas weißen Puder abgekriegt. Sie haben doch sicher bemerkt, daß ich mit meinen Fingern die Schublade des Toilettentisches abgetastet habe.« »Nein, das ist mir entgangen.«
»Sie sollten mich immer genau beobachten, mein Freund. Dabei bekam ich den weißen Puder an meine Finger, und da ich ein wenig aufgeregt war, habe ich sie an meinem Ärmel abgewischt; normalerweise passiert mir so etwas nicht.« »Aber was war denn das für ein Puder?« »Nicht das Gift der Borgias«, erwiderte Poirot mit einem Augenzwinkern. »Ich sehe. Ihre Phantasie wird reger. Ich würde sagen, es war französischer Kalk.« »Französischer Kalk?«
»Ja, Kunstschreiner benützen ihn, um die Schubladen leiser laufen zu lassen.« Ich lachte.
»Sie alter Sünder! Ich dachte schon, es wäre etwas Aufregendes.«
»Au revoir, mein Freund. Ich verschwinde jetzt. Ich fliege!« Die Tür schloß sich hinter ihm. Mit einem Lächeln, halb Spott und halb Zuneigung, holte ich die Kleiderbürste und nahm das Jackett zur Hand.
Da ich am nächsten Morgen von Poirot nichts hörte, entschloß ich mich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Unterwegs traf ich einige alte Freunde und lunchte mit ihnen im Hotel. Am Nachmittag unternahmen wir eine Fahrt. Durch eine Panne kamen wir etwas verspätet zurück, und es war schon acht Uhr vorbei, als ich das Grand Metropolitan Hotel betrat.
Das erste, was ich sah, war Poirot. Er wirkte noch kleiner als gewöhnlich. Saß aber strahlend vor Zufriedenheit zwischen den Opalsens.
»Mon ami Hastings!« rief er und sprang auf, um mich zu begrüßen.
»Umarmen Sie mich, mein Freund; alles hat wunderbar geklappt.«
Glücklicherweise war die Umarmung nur angedeutet - bei seinem Temperament mußte man auf alles gefaßt sein. »Wollen Sie sagen ...«, begann ich. »Es grenzt ans Wunderbare!« sagte Mrs. Opalsen und strahlte übers ganze Gesicht. »Habe ich dir nicht immer gesagt, Ed, wenn Poirot es nicht schafft, schafft es keiner?« »Das hast du gesagt, meine Liebe, und du hattest recht.« Ich sah Poirot hilfesuchend an, und er zwinkerte mir zu. »Mein Freund Hastings hat aufs falsche Pferd gesetzt. Nehmen Sie doch bitte Platz, und dann werde ich Ihnen in Ruhe erzählen, wie sich alles abgespielt hat. Alles ist jetzt in Butter.« »In Butter?« »Aber ja. Sie sind verhaftet.« »Wer ist verhaftet?«
»Nun, das Zimmermädchen und der Diener, parbleu! Das haben Sie wohl nicht vermutet? Auch nicht nach meiner letzten Bemerkung von dem französischen Kalk?« »Sie sagten. Kunstschreiner benützten den.« »Sicher tun sie das, um die Schubladen besser aufziehen zu können. Irgend jemand wollte, daß die Schublade sich ohne Geräusch öffnen läßt. Wer konnte das sein? Natürlich das Zimmermädchen. Der Plan war so raffiniert ausgedacht, daß man zunächst gar nicht darauf kam - nicht einmal Hercule Poirot.
Hören Sie zu! Der Diener war im Nebenzimmer und wartete. Die französische Zofe verließ das Zimmer. Schnell wie der Blitz zog das Stubenmädchen die Schublade heraus, nahm die Juwelenkassette, schob den Riegel der Tür zurück und reichte die Kassette durch die Tür. Der Diener öffnete sie in aller Ruhe mit dem Doppelschlüssel, den er sich besorgt hatte, nahm das Halsband heraus und wartete. Celestine geht wieder aus dem Zimmer und - husch wie der Wind - wird die Kassette wieder an den alten Platz gestellt.
Madame kam, und der Diebstahl wurde entdeckt. Das Stubenmädchen verlangte, rechtschaffen empört, durchsucht zu werden, und verließ wie ein Unschuldslamm das Zimmer. Das imitierte Halsband hatte sie schon am Morgen im Bett der Französin versteckt - ein Meisterstück!« »Aber warum sind Sie nach London gefahren?« »Erinnern Sie sich an die weiße Karte?« »Ja sicher, sie hat mich sehr beschäftigt und beschäftigt mich noch immer. Ich dachte ... « Ich zögerte etwas und sah die Opalsens an. Poirot lachte verschmitzt.
»Es war eine Falle für den Diener. Die Karte hatte eine speziell präparierte Oberfläche - für Fingerabdrücke. Ich fuhr schnurstracks nach Scotland Yard und fragte dort nach unserm alten Freund, Inspektor Japp, und erklärte ihm den Sachverhalt. Wie ich vermutet hatte, stammten die Fingerabdrücke von zwei bekannten Juwelendieben, die schon seit längerem gesucht wurden. Japp kam mit mir her und verhaftete die Diebe. Das Halsband wurde bei dem Diener gefunden. Ein kluges Paar, aber sie haben keine >Methode<. Habe ich Ihnen nicht schon mindestens sechsunddreißigmal gesagt, daß man ohne Methode ... «
»Wenigstens sechsunddreißigmal!« unterbrach ich ihn. »Aber was haben sie falsch gemacht?« »Mon ami, der Plan, eine Stellung als Zimmermädchen und Diener anzunehmen, ist nicht schlecht - aber dann darf man nicht arbeitsscheu sein. Sie hielten es nicht für nötig, das leerstehende Zimmer in Ordnung zu halten und abzustauben. Als der Diener die Juwelenkassette auf den kleinen Tisch nahe an der Verbindungstür abstellte, ließ sie eine rechteckige Spur zurück...« »Ich erinnere mich!« rief ich aus.
»Zuerst war ich meiner Sache noch nicht ganz sicher - aber von diesem Augenblick an wußte ich Bescheid!« Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Und ich habe meine Perlen wieder!« sagte Mrs. Opalsen triumphierend. »Gut«, sagte ich, »ich würde jetzt gerne etwas essen.« Poirot begleitete mich. »Das bringt Ihnen wieder neuen Ruhm ein«, bemerkte ich. »Pas de tout«, erwiderte Poirot ruhig. »Japp und der hiesige Inspektor werden sich den Ruhm teilen. Aber...«, er klopfte auf seine Tasche, »ich habe hier einen Scheck von Mr. Opalsen. Was sagen Sie dazu, mein Freund? Dieses Wochenende ist nicht ganz planmäßig verlaufen. Was halten Sie davon, wenn wir nächstes Wochenende wiederkommen - aber dann auf meine Kosten?«
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