»Und wenn ich richtig verstanden habe, waren die Aktien ein ganz hübsches, dickes Paket?«
»Natürlich. An Bord konnte das Paket überhaupt nicht versteckt werden - und das war anscheinend auch nicht der Fall, weil die Aktien eine halbe Stunde nach Ankunft der Olympia schon zum Verkauf angeboten wurden, lange bevor ich telegrafieren konnte und mir die Nummern übermittelt wurden. Einer der Makler schwört sogar, daß er mehrere Papiere gekauft hat, noch bevor die Olympia eingelaufen war. Aber man kann Aktien schließlich nicht drahtlos schicken ... « »Nein, das kann man nicht. Aber kann nicht irgendein Schnellboot auf offener See das Paket übernommen haben?« »Wir kamen nur mit den offiziellen Booten der Behörden in Berührung, und das war nach dem Alarm, als das Schiff schon unter strenger Kontrolle stand. Ich habe auch sofort denselben Gedanken gehabt und genau aufgepaßt. Mein Gott, Mr. Poirot, diese Sache macht mich noch ganz wahnsinnig! Jetzt behauptet man schon, ich selbst hätte die Aktien gestohlen.« »Aber Sie wurden doch genau untersucht, als Sie an Land wollten, nicht wahr?« fragte Poirot freundlich. »Ja.«
Der junge Mann starrte ihn verwirrt an. »Sie verstehen scheinbar nicht ganz, was ich meine«, sagte Poirot und lächelte rätselhaft. »Ich würde jetzt gern zur Bank gehen und einige Auskünfte holen.« Ridgeway holte eine Karte aus der Tasche und kritzelte ein paar Worte darauf.
»Geben Sie die Karte dort ab, und mein Onkel wird Sie sofort empfangen.« Poirot dankte ihm und verabschiedete sich von Miss Farquhar. Wir fuhren zusammen in die Threadneedle Street, zum Hauptgebäude der London and Scottish Bank. Nach Vorzeigen von Ridgeways Karte wurden wir, vorbei an Einzahlungsund Auszahlungsschaltern, in ein kleines Büro im ersten Stock gerührt. Dort empfingen uns die beiden Generaldirektoren. Es waren zwei würdige Herren, die im Dienste der Bank ergraut waren. Mr. Vavasour trug einen kurzen weißen Bart. Mr. Shaw war glattrasiert.
»Sind Sie Privatdetektive?« fragte Mr. Vavasour. »Wir haben den Fall natürlich Scotland Yard übergeben. Inspektor McNeil hat den Fall übernommen. Ein sehr fähiger Mann, glaube ich.« »Dessen bin ich sicher«, sagte Poirot höflich. »Würden Sie mir einige Fragen, die Ihren Neffen betreffen, gestatten? Außerdem würde ich gerne wissen, wer das Schloß bei Hubbs bestellt hat.«
»Ich selbst«, sagte Shaw. »Ich wollte diese Sache keinem Angestellten anvertrauen. Und was die Schlüssel betrifft, Mr. Ridgeway hat einen, Mr. Vavasour und ich.« »Und kein Angestellter hatte Zugang zu den Schlüsseln?« Mr. Shaw drehte sich fragend zu Mr. Vavasour um. »Ich glaube, ich kann fest behaupten, daß sie im Safe geblieben sind, wo wir sie am Dreiundzwanzigsten deponiert hatten«, sagte Mr. Vavasour. »Mein Kollege wurde unglücklicherweise vor vierzehn Tagen krank - gerade an dem Tag, an dem Philip die Reise angetreten hatte. Er ist erst jetzt wieder gesund geworden.«
»Schwere Bronchitis ist für einen Mann in meinem Alter kein Vergnügen«, sagte Mr. Shaw kläglich. »Ich fürchte, für Mr. Vavasour war die viele Arbeit, die sich durch meine Abwesenheit angehäuft hatte, kein Vergnügen. Und dann kamen auch noch diese unerwarteten Sorgen dazu.« Poirot stellte noch ein paar Fragen. Ich vermutete, er wollte feststellen, wie das Verhältnis zwischen Onkel und Neffe war. Mr. Vavasours Antworten waren kurz und exakt. Sein Neffe sei ein vertrauenswürdiger Angestellter der Bank und ein gewissenhafter Mensch. Von irgendwelchen Schulden oder Geldschwierigkeiten sei ihm nichts bekannt. Man habe ihn schon öfter mit ähnlichen Missionen betraut. Schließlich wurden wir höflich hinauskomplimentiert. »Ich bin enttäuscht«, sagte Poirot, als wir auf die Straße kamen.
»Sie haben wohl gehofft, mehr zu erfahren? Die alten Herren sind recht reserviert.« »Es ist nicht ihre Reserviertheit, die mich enttäuscht hat, mon ami. Ich hatte ja nicht erwartet, in den Direktoren der Bank kühne Finanziers mit Adlerblick zu finden, wie es so schön in Ihren Lieblingsbüchern steht. Nein, ich bin von dem ganzen Fall enttäuscht - er ist zu einfach!« »Einfach?« »Ja, finden Sie die Sache nicht einfach, geradezu kindisch leicht?« »Wissen Sie denn, wer die Staatsanleihen gestohlen hat?« »Ja, ich weiß es.« »Aber dann ... müssen wir... «
»Machen Sie sich keine Gedanken, und regen Sie sich nicht auf, Hastings. Im Augenblick müssen wir gar nichts.« »Aber warum denn? Worauf warten Sie?« »Auf die Olympia. Sie legt am Dienstag wieder in England an.« »Aber wenn Sie wissen, wer die Staatsanleihen gestohlen hat, warum dann noch warten? Kann der Täter nicht entkommen?« »Auf eine Südseeinsel? Dort besteht für ihn keine Auslieferungsgefahr. Nein, mon ami, das Leben dort wird ihm nicht gefallen. Warum ich warte? Eh bien, für einen Hercule Poirot ist der Fall völlig klar, aber für andere, die vom lieben Gott nicht so reich mit Verstand bedacht worden sind -zum Beispiel für Inspektor McNeil -, wäre es besser, noch einige Ermittlungen anzustellen, um Beweise zu bekommen. Man muß immer an seine weniger begabten Mitbürger denken.« »Großer Gott, Poirot! Wissen Sie, ich würde viel Geld dafür ausgeben, nur um einmal zu erleben, daß Sie so richtig reinfallen - nur einmall Sie sind so schrecklich von sich selbst überzeugt!«
»Regen Sie sich nicht so auf, Hastings. Ich weiß, daß Sie mich zeitweilig nicht ausstehen können! Ach, große Geister leiden viel.«
Der kleine Mann warf sich in die Brust und seufzte so komisch, daß ich lachen mußte.
Am Dienstag saßen wir in einem Erster-Klasse-Abteil nach Liverpool. Poirot hatte sich hartnäckig geweigert, mir auch nur Andeutungen zu machen. Er badete sich sozusagen in dem Vergnügen, weil ich noch immer völlig im dunkeln tappte. Ich hielt es für besser, keine Fragen mehr zu stellen, und verbarg meine Neugier hinter vorgespiegelter Gleichgültigkeit. Am Kai, an dem das große Transatlantikschiff lag, angekommen, wurde Poirot hellwach. Wir interviewten hintereinander vier verschiedene Stewards und erkundigten uns nach einem angeblichen Freund Poirots, der am Dreiundzwanzigsten nach New York gefahren war.
»Ein ältlicher Herr, der eine Brille trug, ein Kranker, er konnte kaum die Kabine verlassen.«
Diese Beschreibung schien auf einen Mr. Ventnor zuzutreffen, der die Kabine C 24 gehabt hatte, direkt neben der von Philip Ridgeway. Obwohl ich nicht wußte, wie Poirot auf die Existenz und die Personalbeschreibung dieses Mr. Ventnor gekommen war, fühlte ich mich sehr aufgeregt. »Sagen Sie«, rief ich, »war dieser Herr einer der ersten Passagiere, die in New York ausstiegen?« Der Steward schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, er war einer der letzten, die von Bord gingen.« Ich schwieg mutlos und bemerkte, daß Poirot mich angrinste. Er dankte dem Steward; eine Banknote wechselte den Besitzer, und wir fuhren ab. »Alles schön und gut«, bemerkte ich hitzig, »aber diese letzte Antwort muß Ihre feine Theorie ganz schön über den Haufen geworfen haben, und wenn Sie noch so grinsen!«
»Wie immer sind Sie blind und taub, Hastings. Im Gegenteil, die letzte Antwort war ein Grundpfeiler meiner Theorie.« Voller Verzweiflung hob ich die Arme.
»Ich gebe es auf«, sagte ich.
Wieder im Zug nach London, schrieb Poirot einige Minuten lang emsig und versiegelte das Resultat seiner Arbeit dann in einem Kuvert.
»Das ist für den guten Inspektor McNeil. Wir wollen es im Vorbeifahren bei Scotland Yard abgjben und dann in das Restaurant gehen, in das ich Miss Esmee zum Dinner eingeladen habe.« »Und was ist mit Ridgeway?«
»Ja, was ist mit ihm?« fragte Poirot mit einem Zwinkern. »Na, Sie werden doch nicht annehmen - Sie können nicht...« »Sie verlieren immer mehr das Gefühl für die Zusammenhänge, Hastings. Selbst wenn Ridgeway der Dieb gewesen wäre -was durchaus im Bereich der Möglichkeit lag -, wäre das eine hübsche Sache gewesen; ein Stück sauberer, methodischer Arbeit.«
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