»Es muß kurz vor neun Uhr gewesen sein. Wir waren mit unserem Dinner fertig und saßen beim Kaffee.« »Ihr Mann war schon nach London gereist?« »Ja, er fuhr mit dem Sechs-Uhr-fünfzehn-Zug.« »Fuhr er mit dem Wagen zur Bahn oder ging er zu Fuß?« »Unser eigener Wagen ist nicht hier. Er ließ sich mit einem Wagen einer Garage in Elmer's Dale zum Bahnhof abholen.« »Benahm sich Mr. Pace irgendwie ungewöhnlich?« »Nein - er war wie immer.« »Können Sie mir den Besucher beschreiben?«
»Nein, leider nicht. Ich habe ihn nicht gesehen. Mrs. Middleton führte ihn direkt in das Jagdzimmer und meldete ihn dann bei meinem Onkel an.« »Was sagte Ihr Onkel?«
»Er schien etwas verärgert zu sein, aber er ging gleich ins Jagdzimmer hinüber. Ungefähr fünf Minuten später hörte ich die beiden laut und erregt sprechen. Ich rannte auf den Flur hinaus und stieß dabei fast mit Mrs. Middleton zusammen. Dann hörten wir den Schuß. Das Jagdzimmer war von innen abgeschlossen; wir mußten daher um das ganze Haus herum, um zum Fenster zu kommen. Natürlich verloren wir dadurch kostbare Zeit, die der Mörder ausnutzte, um zu fliehen. Mein armer Onkel... Er war durch den Kopf geschossen worden.« Sie sprach ganz leise, und ihre Stimme zitterte. »Ich sah sofort, daß er tot war. Ich schickte Mrs. Middleton zur Polizei. Im Zimmer selbst rührte ich nichts an.« Ich nickte. »Und die Waffe?«
»Ja - ich habe lediglich eine Vermutung, Captain Hastings. An der Wand hingen zwei Revolver meines Mannes. Einer davon fehlt. Ich machte auch die Polizei darauf aufmerksam, und sie nahm dann den anderen Revolver mit. Wenn die Kugel gefunden worden ist, wird die Polizei wohl mehr wissen.« »Kann ich mir das Jagdzimmer mal ansehen?« »Aber natürlich. Die Beamten haben bereits alles durchsucht und die Leiche mitgenommen.« Sie begleitete mich zu dem Schauplatz des Verbrechens. In diesem Moment betrat Havering die Halle, und mit einer kurzen Entschuldigung wandte sich seine Frau von mir ab und lief auf ihn zu. Ich mußte mir das Jagdzimmer allein ansehen. Das Ergebnis meiner Inaugenscheinnahme war enttäuschend. Ich betrachtete alles mit äußerster Sorgfalt, aber außer einem großen Blutfleck war nichts zu sehen. Mit dem kleinen Fotoapparat, den ich mitgebracht hatte, machte ich ein paar Aufnahmen von dem Zimmer. Dann ging ich hinaus in den Garten und suchte vor dem Fenster des Jagdzimmers nach Fußspuren. Es war völlig sinnlos, Zeit damit zu verlieren, denn der Boden war völlig zertrampelt. Hunter's Lodge hatte mir nicht viel zu bieten. Ich mußte zurück nach Elmer's Dale und mit Japp Fühlung aufnehmen. Also verabschiedete ich mich und fuhr mit dem Wagen, der mich hergebracht hatte, wieder zurück.
Ich fand Japp in den Matlock Arms, so hieß das Gasthaus. Als er sich die Leiche ansehen ging, nahm er mich mit. Harrington Pace war ein kleiner, magerer, glattrasierter Mann von sehr amerikanischem Aussehen. Er war aus allernächster Nähe in den Hinterkopf geschossen worden.
»Er muß sich einen Augenblick umgedreht haben«, bemerkte Japp, »während der andere sich den Revolver schnappte und ihn erschoß. Der Revolver, den uns Mrs. Havering gegeben hat, war geladen, und ich vermute, der andere war es auch. Es gibt doch komische Leute - wer hängt sich schon zwei geladene Revolver an die Wand?«
»Was halten Sie von der Sache?« fragte ich ihn, als wir den Raum verließen.
»Um ehrlich zu sein, zuerst hatte ich Havering im Verdacht!« Als er mein Erstaunen bemerkte, sagte er: »Warum nicht? Es gibt nämlich zwei dunkle Punkte in Haverings Vergangenheit. Als er in Oxford studierte, passierte etwas Komisches mit der Unterschrift seines Vaters auf seinem Scheck. Die Angelegenheit wurde natürlich vertuscht. Ja, und dann, da ist noch etwas Schwerwiegenderes. Mr. Havering steckt bis über die Ohren in Schulden - Schulden, die er seinem Onkel mit gutem Grund verschwiegen hat. Dabei ist ziemlich sicher, daß das Testament des Onkels zu seinen Gunsten abgefaßt ist. Ja, mein Verdacht richtete sich auf ihn, und deswegen wollte ich ihn sprechen, bevor er seine Frau gesehen hatte. Aber ihre Aussagen widersprachen sich nicht. Nach den Auskünften der Bahnstation gibt es auch keinen Zweifel, daß er mit dem Sechs-Uhr-fünfzehn-Zug fuhr. Der Zug kommt um zehn Uhr dreißig in London an. Er behauptete, schnurstracks in seinen Klub gegangen zu sein, und wenn sich das bestätigt - ja, dann kann er unmöglich mit einem schwarzen Bart hier gewesen sein und um neun Uhr seinen Onkel erschossen haben.«
»Hm, ja, ich wollte Sie noch fragen - was halten Sie von dem Bart?« Japp zwinkerte.
»Ich denke, der ist mächtig schnell gewachsen - in fünf Meilen - von Elmer's Dale bis Hunter's Lodge. Ich jedenfalls kenne nur glattrasierte Amerikaner. Und wir müssen wohl unter Mr. Paces amerikanischen Freunden suchen, wenn wir den Mörder finden wollen. Ich habe zuerst die Haushälterin und dann Mrs. Havering vernommen. Ihre Geschichten stimmen völlig überein. Zu schade, daß Mrs. Havering diesen Burschen nicht zu Gesicht bekam. Sie ist eine patente Frau und hätte uns sicher weiterhelfen können.«
Ich setzte mich hin und schrieb einen genauen und langen Bericht an Poirot. Bevor ich ihn zur Post brachte, fügte ich noch einige neue Informationen hinzu. Die Kugel war untersucht worden, sie mußte von einem Revolver stammen, welcher der Waffe glich, die die Polizei in Hunter's Lodge mitgenommen hatte. Weiter prüfte man Mr. Haverings Angaben nach und stellte fest, daß er tatsächlich in London mit dem besagten Zug angekommen war. Außerdem war etwas Ungewöhnliches geschehen. Ein Mann aus der City, der in Ealing ausgestiegen war und nach Haven Grenn hinüberfuhr, um auf die District Railway Station zu kommen, hatte ein Paket gefunden, das zwischen den Schienen lag. Als er das braune Papier aufmachte, fand er einen Revolver darin eingewickelt. Er gab das Paket auf der dortigen Polizeistation ab, und in verhältnismäßig kurzer Zeit erwies sich, daß es sich um den gesuchten Revolver handeln mußte. Ein Schuß fehlte. Dies alles fügte ich meinem Bericht an. Am nächsten Morgen, als ich beim Frühstück saß, kam ein Telegramm von Poirot:
»Natürlich war der schwarzbärtige Mann nicht Havering - nur Sie und Japp konnten auf solch eine Idee kommen - telegrafieren Sie mir eine Beschreibung der Haushälterin - wie waren sie und Mrs. Havering gekleidet — verschwenden Sie keine Zeit mit Fotografieren — Ihre Bilder sind unterbelichtet und nicht im mindesten künstlerisch.«
Ich fand Poirots Telegramm reichlich überheblich. Wahrscheinlich war er eifersüchtig auf die Handlungsfreiheit, die mir auf dem Schauplatz der Ereignisse natürlich erlaubte, nach meinem Gusto zu verfahren. Sein Wunsch nach einer Beschreibung der Kleider, die die beiden Frauen getragen hatten, kam mir ziemlich lächerlich vor, aber ich entsprach seinem Ansinnen nach bestem Vermögen. Um elf Uhr kam die telegrafische Antwort von Poirot. »Raten Sie Japp, die Haushälterin zu verhaften, bevor es zu spät ist.« Völlig ratlos brachte ich das Telegramm zu Japp. Der fluchte leise vor sich hin.
»Ein verrückter Bursche, dieser Mr. Poirot! Aber wenn er so etwas sagt, ist immer etwas dran. Dabei habe ich die Frau kaum beachtet. Ich sehe auch keine Möglichkeit, sie zu verhaften, aber ich werde sie überwachen lassen. Gehen wir doch sofort hin und sehen sie uns einmal genauer an.« Aber es war zu spät! Mrs. Middleton, diese ruhige Frau mittleren Alters, die uns so nett und so respektabel erschienen war, hatte sich in Luft aufgelöst. Ihren Koffer hatte sie zurückgelassen. Er enthielt nur normale Kleidungsstücke. Keinen Hinweis über ihre Identität -keinen Aufschluß, woher sie kam. Mrs. Havering teilte alle ihr bekannten Details mit. »Ich habe sie vor ungefähr drei Wochen engagiert, als Mrs. Emery, unsere frühere Haushälterin, wegging. Sie wurde mir durch das Büro von Mrs. Selbourne in Mount Street - eine sehr bekannte Agentur - empfohlen. Bisher habe ich alle meine Dienstboten durch diese Agentur bekommen. Sie schickten mir verschiedene Bewerberinnen, aber diese Mrs. Middleton schien mir bei weitem die netteste; außerdem hatte sie blendende Zeugnisse. Ich engagierte sie und teilte das sofort der Agentur mit. Daß ich mich in dieser ruhigen und netten Frau so getäuscht haben soll, kann ich kaum glauben.« Die Sache war mysteriös. Die Haushälterin konnte das Verbrechen nicht begangen haben, da sie in dem Augenblick, als der Schuß abgefeuert wurde, mit Mrs. Havering in der Halle war. Und doch mußte sie irgendeine Verbindung zu dem Mörder gehabt haben! Ich konnte mir nicht vorstellen, warum sie sonst so plötzlich verschwand. Ich telegrafierte Poirot und schlug ihm vor, nach London zurückzukommen und bei der Agentur Selbourne nachzuforschen. Poirots Antwort kam umgehend: »Nutzlos, bei der Agentur nachzufragen - sie ist dort unbekannt - stellen Sie fest, welchen Wagen sie benutzte, als sie sich vorstellte. «
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