»Wenn ich nicht immer seekrank würde, müßte eine Seereise auf einem solch großen Schiff direkt herrlich sein«, murmelte Poirot träumerisch.
»Ja, wirklich!« sagte ich nicht weniger bewegt. »Einige dieser Schiffe sind wahre Paläste - die Schwimmbäder, die Liegehallen, die Restaurants -, manchmal vergißt man, daß man auf See ist.«
»Ich könnte nie vergessen, daß ich auf See bin«, sagte Poirot. »Alle diese Dinge, die Sie da anführen, bedeuten mir nichts; aber, mon ami, denken Sie doch einmal an die Menschen, die auf einem solchen Schiff zu finden sind. An Bord dieser schwimmenden Paläste, wie Sie so richtig sagen, kann man die Elite - die Hautevolee der kriminellen Welt antreffen!«
Ich lachte. »Also darauf wollen Sie hinaus! Sie hätten wohl gern den Degen mit dem Mann gekreuzt, der die Liberty-Staatsanleihen stibitzt hat?« Unsere Wirtin unterbrach unser Gespräch.
»Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen, Mr. Poirot. Hier ist ihre Karte.« Die Karte trug die Aufschrift: Miss Esmee Farquhar. Poirot, der sich unter den Tisch gebückt hatte, um einen herumliegenden Krümel in den Papierkorb zu werfen, nickte der Wirtin zu. Im nächsten Augenblick wurde die reizendste junge Dame, die ich je gesehen hatte, ins Zimmer geführt. Sie war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, hatte große, braune Augen und eine vollendet schöne Figur. Sie war sehr gut angezogen und machte einen tadellosen Eindruck. »Setzen Sie sich bitte, Mademoiselle. Dies ist mein Freund, Captain Hastings, der mir bei meinen kleinen Problemen hilft.« »Ich fürchte, es ist ein großes Problem, mit dem ich heute zu Ihnen komme, Mr. Poirot«, sagte das Mädchen und nickte mir freundlich zu, als sie sich setzte. »Ich nehme an. Sie haben schon darüber in den Zeitungen gelesen. Es handelt sich um den Diebstahl der Liberty-Staatsanleihen auf der Olympia.« Poirot mußte doch einiges Erstaunen gezeigt haben, denn sie fuhr schneller fort: »Wahrscheinlich fragen Sie sich, was ich mit der London und Scottish Bank zu tun habe. Einerseits gar nichts, andererseits gewissermaßen sehr viel. Verstehen Sie, Mr. Poirot, ich bin mit Mr. Philip Ridgeway verlobt.« »Aha! Und Mr. Philip Ridgeway... « »... war das Paket der gestohlenen Staatsanleihen anvertraut. Natürlich kann man ihm keinen Vorwurf machen, denn ihn traf keine Schuld; aber trotzdem ist er über die Sache völlig niedergeschmettert, zumal sein Onkel - das weiß ich - behauptet, er müsse leichtsinnigerweise irgendwo erwähnt haben, daß er die Papiere bei sich hat. Seine Karriere ist ruiniert.«
»Wer ist sein Onkel?«
»Mr. Vavasour, einer der beiden Generaldirektoren der London und Scottish Bank.«
»Es wäre gut, Miss Farquhar, wenn Sie mir die ganze Geschichte erzählen würden.«
»Sehr gem. Wie Sie wissen, wollte die Bank für eine Transaktion in Amerika für eine Million Dollar Liberty-Staatsanleihen hinüberschicken. Mr. Vavasour beauftragte seinen Neffen, der seit vielen Jahren bei der Bank einen Vertrauensposten innehat und der mit allen Details der Bankgeschäfte in New York vertraut war, mit dem Transport der Aktien. Die Olympia fuhr am Dreiundzwanzigsten von Liverpool ab, und die Staatsanleihen wurden Philip am Morgen dieses Tages durch Mr. Vavasour und Mr. Shaw übergeben. Sie wurden abgezählt, in ein Paket verpackt und In seiner Gegenwart versiegelt. Danach schloß er das Paket sofort in seinen Koffer ein.« »Ein Koffer mit einem gewöhnlichen Schloß?« »Nein, Mr. Shaw, der andere Generaldirektor der London and Scottish Bank, bestand darauf, daß ein Spezialschloß der Firma Hubbs angebracht wurde. Philip, wie ich schon sagte, legte das Paket unten in seinen Koffer. Wie Sie wissen, wurde es noch vor der Ankunft der Olympia in New York gestohlen. Das ganze Schiff wurde systematisch und genau, aber erfolglos durchsucht. Die Papiere hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst.« Poirot machte eine Grimasse.
»Wohl nicht ganz, denn wie ich gehört habe, wurden sie in kleinen Paketen innerhalb einer halben Stunde nach Ankunft der Olympia bereits verkauft. Als erstes müßte ich mit Mr. Ridgeway sprechen.«
»Ich wollte gerade vorschlagen, mit mir im Cheshire Cheese zu lunchen. Philip erwartet mich dort, aber er weiß nicht, daß ich Sie seinetwegen um Rat gefragt habe.« Wir waren mit ihrem Vorschlag einverstanden und fuhren mit einem Taxi hin. Mr. Philip Ridgeway war schon dort und sah einigermaßen überrascht aus, als seine Braut mit zwei fremden Männern ankam. Er war ein großer, nett aussehender junger Mann, mit leicht ergrauten Schläfen, obwohl er nicht viel über dreißig Jahre alt sein konnte. Miss Farquhar ging auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Verzeih mir, Philip, ich habe ein bißchen eigenmächtig gehandelt. Darf ich vorstellen: Das ist Mr. Hercule Poirot, von dem du schon oft gehört haben mußt, und sein Freund, Captain Hastings.« Ridgeway machte ein erstauntes Gesicht. »Natürlich habe ich schon von Ihnen gehört, Mr. Poirot!« sagte er, als wir uns begrüßten. »Aber ich wußte nicht, daß Esmee auf die Idee kommen könnte. Sie wegen unserer Sorgen um Rat zu fragen.«
»Ich fürchtete, du hättest es nicht zugelassen, Philip«, sagte Miss Farquhar leise.
»Ich wünsche sehr«, bemerkte Ridgeway mit einem Lächeln, »Mr. Poirot wird in der Lage sein, etwas Licht in diese undurchsichtige Angelegenheit zu bringen. Ich verliere bald den Verstand.« Sein Gesicht sah tatsächlich verhärmt und schmal aus und ließ deutlich den seelischen Druck, unter dem er lebte, erkennen.
»Nun, lassen Sie uns erst einmal essen, und nach dem Lunch wollen wir unsere Köpfe zusammenstecken und sehen, was wir tun können. Ich möchte die ganze Geschichte von Mr. Ridgeway selbst hören«, sagte Poirot. Während des ausgezeichneten Steaks und des nicht weniger trefflichen Nierenpuddings erzählte Philip Ridgeway die näheren Begleitumstände des Diebstahls. Seine Erzählung stand im völligen Einklang mit dem Bericht, den uns Miss Farquhar schon gegeben hatte. Als er geendet hatte, stellte Poirot seine erste Frage. »Und wie entdeckten Sie den Diebstahl, Mr. Ridgeway?« Er lachte bitter.
»Das konnte man gar nicht übersehen, Mr. Poirot. Mein Kabinenkoffer war halb unter meinem Bett hervorgezogen und zerkratzt und beschädigt, da man versucht hatte, das Schloß mit Gewalt aufzubrechen.«
»Ach - ich hatte verstanden, der Koffer wäre mit einem Schlüssel geöffnet worden?«
»Das stimmt. Zuerst hat man versucht, das Schloß aufzubrechen, aber das mißlang wohl. Schließlich brachte der Dieb es auf irgendeine Art und Weise fertig, aufzuschließen.« »Merkwürdig!« sagte Poirot, und seine Augen begannen grün zu glitzern. Ich kannte dieses Glitzern ganz genau. »Sehr merkwürdig! Da verschwendet man soviel Zeit, um das Schloß aufzubrechen, und dann - sapristi - fällt einem plötzlich ein, daß man ja einen Schlüssel hat. Aber von Hubbs' Schlössern gibt es doch keine Duplikate!« »Das ist es ja gerade! Der Dieb konnte keinen Schlüssel haben. Ich hatte ihn Tag und Nacht bei mir.« »Sind Sie ganz sicher?«
»Das kann ich beschwören! Ich frage mich nun auch, warum man soviel Zeit mit dem Versuch verschwendet, ein doch offensichtlich unbezwingbares Schloß aufzubrechen, wenn man ein Duplikat des Schlüssels oder den Schlüssel selbst hatte. « »O ja, diese Frage ist wichtig; deswegen habe ich sie ja auch gestellt. Ich wage zu prophezeien, daß die Aufklärung, wenn sie uns je gelingen sollte, mit dieser merkwürdigen Tatsache zusammenhängt. Bitte erschlagen Sie mich nicht, wenn ich noch eine weitere Frage an Sie richte: Sind Sie absolut sicher, daß Sie den Koffer abgeschlossen hatten?« Philip Ridgeway sah ihn nur an, und Poirot machte eine entschuldigende Geste. »Oh, so was kann passieren, glauben Sie mir. Nun gut, die Staatsanleihen wurden aus dem Koffer gestohlen. Und was tat der Dieb anschließend? Wie hat er es fertiggebracht, mit seiner Beute an Land zu kommen?« »Das ist es ja gerade!« rief Ridgeway. »Wie hat er es angestellt? Die Zollbehörden waren unterrichtet. Jeder einzelne Mensch, der das Schiff verließ, wurde genauestens kontrolliert.«
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