»Erfüllt?« knurrte er. »Sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie in ganz kurzer Zeit ein toter Mann sein werden?«
»Allerdings«, erwiderte Achille mit tiefem Ernst, »darüber bin ich mir klar, Sie werden es wahrscheinlich nicht begreifen können, daß ein Mann willens sein könnte, einen Erfolg mit seinem Leben zu bezahlen. Es hat stets Männer gegeben, die ihr Leben im Kriege für ihre Heimat opferten, ich bin bereit, das meinige für das Fortbestehen der ganzen Welt zu opfern.« Obgleich ich keine Minute gezögert hätte, das gleiche zu tun für die gerechte Sache, so traf es mich doch ziemlich hart, daß ich bezüglich dieses Punktes vorher nicht befragt worden war. Dabei erinnerte ich mich, daß Poirot mich immer wieder gedrängt hatte, im Hintergrund zu bleiben - nun auf einmal betrachtete man meinen Opfergang als Selbstverständlichkeit? Doch ich mußte mich mit den gegebenen Tatsachen abfinden. »Und wie stellen Sie sich das vor, daß Sie mit der Preisgabe Ihres Lebens etwas an dem Schicksal der Welt ändern könnten?« fragte Ryland höhnisch.
»Aus Ihrer Frage ersehe ich, daß Sie Hercules Pläne nicht durchschaut haben. Um gleich reinen Tisch zu machen, der Ort für Ihre hiesigen Unternehmungen war bereits seit einigen Monaten bekannt, alle Hotelgäste und Bediensteten sind Detektive und Mitglieder des Geheimdienstes. Eine Abriegelung des gesamten Bergmassivs ist in die Wege geleitet worden. Sie mögen so viele Fluchtmöglichkeiten erwägen wie Sie wollen, doch können Sie nicht mehr entweichen. Hercule Poirot selbst leitet außerhalb die erforderlichen Operationen. Die Sohlen meiner Schuhe wurden mit einem Anisöl-Präparat getränkt, bevor ich von meinem Zimmer wieder zur Terrasse herunterkam, um Hercules Platz einzunehmen. Es wenden Spürhunde verwendet, um den jetzigen Ort meiner Anwesenheit zu ermitteln. Die Spur wird mit unfehlbarer Sicherheit an den Eingang des Felsenlabyrinths führen. Sie werden einsehen, daß alle Ihre Vorhaben zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, denn das Netz ist unweigerlich über Ihnen zusammengezogen. Ein Entrinnen ist völlig unmöglich.«
Madame Olivier brach plötzlich in ein hysterisches Lachen aus. »Da befinden Sie sich aber in einem großen Irrtum, mein Herr, es gibt einen Weg, Ihnen zu entkommen und gleich Samson im Altertum gleichzeitig unsere Feinde zu erledigen. Was sagen Sie nun, mein Freund?« Ryland starrte gebannt zu Achille Poirot herüber. »Angenommen, es ist alles Lüge, was er vorgebracht hat?« warf Ryland mit heiserer Stimme ein. Die anderen zuckten mit den Schultern.
»In einer Stunde beginnt die Dämmerung, dann werden Sie sich von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen können. Man wird meine Spur bereits bis zum Eingang des Felsenlabyrinths verfolgt haben.« In diesem Moment war von weither ein Stimmengewirr vernehmbar, und ein Mann lief, unzusammenhängende Worte ausstoßend, in den Raum. Ryland sprang auf und begab sich hinaus. Madame Olivier ging zur gegenüberliegenden Seite des Raumes und öffnete eine Tür, die bisher meiner Aufmerksamkeit entgangen war. Ich konnte gerade noch einen schnellen Blick in ein vollständig eingerichtetes Laboratorium werfen, das mich an Paris erinnerte. Nummer vier sprang gleichfalls auf und verließ den Raum, kam jedoch nach kurzer Zeit wieder und drückte der Komtesse den Selbstlader von Poirot in die Hand.
»Es besteht zwar keine Gefahr, daß sie uns entkommen«, sagte er grimmig, »aber auf alle Fälle haben Sie dieses hier.« Gleich darauf war er wieder draußen.
Die Komtesse kam zu uns herüber und betrachtete meinen Gefährten einige Zeit mit größter Aufmerksamkeit. Plötzlich lachte sie hell auf.
»Sie scheinen Ihrem Bruder in nichts nachzustehen, Monsieur Achille Poirot«, sagte sie spöttisch.
»Madame, lassen Sie uns doch lieber zum Geschäft kommen. Glücklicherweise hat man uns allein gelassen. Sagen Sie uns Ihren Preis.«
»Ich verstehe nicht recht...«
»Madame, Sie können uns zur Flucht verhelfen, da Ihnen die Geheimausgänge dieses Labyrinths bekannt sind. Darum frage ich Sie nochmals, was fordern Sie?« Sie lachte abermals.
»Mehr, als Sie jemals zahlen könnten, mein kleiner Mann! Kein Geld der ganzen Welt kann mich erkaufen!«
»Madame, ich habe aber nicht von Geld gesprochen, denn ich verfüge über etwas Intelligenz. Doch Tatsache ist - daß jedermann seinen Preis hat. Im Austausch gegen Leben und Freiheit biete ich Ihnen die Erfüllung Ihres Herzenswunsches.«
»Sind Sie etwa ein Zauberer?«
»Sie können mich dafür halten, wenn Sie wollen.« Die Komtesse ließ plötzlich ihren bis dahin höhnischen Ton fallen und sprach mit leidenschaftlicher Verbitterung. »Sie Narr -sprechen über meinen Herzenswunsch! Können Sie mich etwa an meinen Feinden rächen? Können Sie mir Jugend, Schönheit und ein frohes Herz wiedergeben? Können Sie einen Toten wieder zum Leben erwecken?« Achille Poirot betrachtete sie mit wachsender Aufmerksamkeit. »Welches von den drei Dingen wünschen Sie, Madame? Bitte treffen Sie Ihre Wahl.«
Sie lachte wiederum hell auf. »Wollen Sie mir vielleicht ein Lebenselixier verkaufen? Doch hören Sie, ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Ich hatte einst ein Kind, machen Sie ausfindig, wo es sich befindet - und Sie sind frei.«
»Madame, ich bin einverstanden. Es ist ein guter Vorschlag, und Ihr Kind soll Ihnen wohlbehalten wieder zugeführt werden. Auf das Wort von - nun, auf das Wort von Hercule Poirot selbst.«
Wieder nahm uns die seltsame Frau nicht ernst - diesmal lachte sie lange und schmerzlich.
»Mein lieber Poirot, ich glaube Ihnen eine kleine Falle gestellt zu haben. Es ist zwar sehr freundlich von Ihnen, mich in der Hoffnung zu bestärken, mein Kind wiederfinden zu können, aber sehen Sie, ich weiß zufällig, daß es eine sehr vage Hoffnung ist, und so würde unser Handel ein einseitiger sein, nicht wahr?«
»Madame, ich schwöre Ihnen bei dem allmächtigen Himmel, daß ich Ihnen Ihr Kind wiederbringen werde.«
»Ich stellte bereits früher an Sie die Frage, Monsieur Poirot, ob Sie die Toten wieder zum Leben erwecken können.«
»Dann ist dieses Kind also tot?«
»Ja, so ist es leider.«
Er ging auf sie zu und ergriff ihr Handgelenk. »Madame, ich, der ich zu Ihnen spreche, schwöre Ihnen nochmals, ich werde das scheinbar Unmögliche möglich machen.« Sie starrte ihn ungläubig und fasziniert an. »Sie wollen es mir nicht glauben, so will ich denn meine Worte unter Beweis stellen. Sehen Sie in mein Taschenbuch, welches man mir fortgenommen hat.«
Sie verließ den Raum und kam mit dem besagten Taschenbuch zurück. In der anderen Hand hielt sie unausgesetzt den Revolver drohend auf uns gerichtet, und ich fühlte, daß die Chancen von Achille, sie zu bluffen, auf sehr schwachen Füßen standen. Die Komtesse war bestimmt keine Närrin, »öffnen Sie das Taschenbuch, Madame, und zwar die linksseitige Klappe, ja, so ist es recht. Nun entnehmen Sie das Foto und schauen es sich bitte genau an.«
Verwundert entnahm sie dem Fach etwas, das ein kleines Foto zu sein schien, skeptisch betrachtete sie es, stieß einen Schrei aus, und ich dachte, sie würde in Ohnmacht fallen. Dann eilte sie auf meinen Gefährten zu.
»Wo ist er, sagen Sie mir um Himmels willen, wo befindet er sich?«
»Erinnern Sie sich meines Vorschlages, Madame!«
»Ja, selbstverständlich, ich will Ihnen nun glauben, wir müssen uns beeilen, bevor man zurückkommt.« Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn schnell, jedes laute Geräusch vermeidend, aus der Kammer. Ich folgte ihnen unmittelbar. Von dem Vorraum gelangten wir zu dem Tunnel, den wir zuvor passiert hatten und der sich nach kurzer Zeit gabelte. Sie bog nach rechts ein. Wieder und immer wieder gelangten wir an Abzweigungen, doch sie führte uns mit unfehlbarer Sicherheit und stets wachsender Eile weiter. »Wenn wir nur noch zur Zeit kommen«, keuchte sie außer Atem. »Wir müssen uns im Freien befinden, bevor die Explosion erfolgt.«
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