»So tun, als wüßten. ?«
»Psst! Mach einfach mit.«
Ein hübsches Mädchen, nicht älter als zwanzig, wenn überhaupt, bekleidet mit dem obligatorischen schwarzen Kleid, der weißen Schürze und mit einem Spitzenhäubchen auf der hochgekämmten Frisur, betrat schüchtern das Zimmer, lächelte Vi erkennend an und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Mrs. Hudson, nicht wahr? Mir wurde gesagt, daß Sie mich sprechen wollten.«
»Ja, Mary«, antwortete ich herzlich. »Mrs. Warner und ich würden uns gern, wenn du erlaubst, ein klein wenig mit dir unterhalten.« Ich wies mit einer Handbewegung auf den Sessel zu meiner Linken. »Bitte, setz dich doch.«
Sie zögerte und warf Vi einen hilfesuchenden Blick zu, so als wolle sie fragen, ob ihr dies anstünde.
»Setz dich ruhig, Mary, sei ein gutes Mädchen«, bestätigte meine alte Freundin mit einem freundlichen Lächeln. »Laß dir keine Gelegenheit entgehen, um deine Füße zu entlasten, sag’ ich immer.«
Kaum war sie meiner Bitte nachgekommen, rutschte sie auch schon so unruhig in ihrem Sessel hin und her, wie es ein vor den Direktor gezerrter Schüler tun würde. Da wir uns nun auf gleicher Höhe befanden, konnte ich verblüfft eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihr und dem ermordeten Mädchen erkennen.
Guter Gott, dachte ich, als mir die Erinnerung an meinen verstorbenen Gatten durch den Kopf schoß, der von den Gesichtern seiner toten Schiffskameraden verfolgt wurde, würde ich von nun an das Gesicht des armen toten Mädchens in dem Gesicht jeder jungen Frau sehen?
»Stimmt etwas nicht, Mrs. Hudson?«
»Wie?«
Ich war tief in Gedanken versunken und hatte nicht bemerkt, daß sie mein Starren, so unbeabsichtigt jene Unhöflichkeit war, unnötig in Verlegenheit brachte.
»Nein, nein. Nichts«, erwiderte ich lächelnd. »Nun erzähl mir doch«, fragte ich, »wo ist dein Zuhause?«
»Zuhause? County Clare in Irland, Mrs. Hudson.« »County Clare«, wiederholte ich. »Schon der Name hat so etwas Schwungvolles an sich. Es muß dort sehr schön sein.«
»Schön, sagten Sie? Davon weiß ich nichts.«
»Oh.« Ich wußte nicht so recht, was ich sonst sagen sollte.
»Man hat nicht allzuviel Gelegenheit, die Gegend zu bewundern, wenn man die Älteste von acht ist, gnädige Frau. Hab’ mein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, wirklich. Mein Vater ist gestorben, und meine Mutter ist zwar ‘ne liebe Frau, aber sie hat keinen Tag, ohne daß ihr irgendwas weh tut, da blieb es an mir hängen, mich um die ganze Schar zu kümmern! Kochen, waschen, schrubben, und nie einen Tag für mich allein. Sehen Sie«, rief sie und streckte ihre Arme vor uns aus, »neunzehn bin ich, und ich habe Hände wie ‘ne alte Frau! Oh«, stammelte sie mit hochroten Wangen, »du meine Güte, Madam, ich wollte nicht sagen.«
Wir beiden älteren Damen lächelten.
»Na, komm, mach dir keine Sorgen, Mary«, antwortete meine Freundin mit einem Kichern. »Em und ich machen uns keine Hoffnungen, daß wir in dieser Phase unseres Lebens noch zur Maikönigin gekürt werden könnten.«
»Und so bist du nach England gekommen, um ein Vermögen zu machen«, sagte ich, noch immer über Violets letzte Bemerkung lächelnd.
»Unsereins denkt nicht an ein Vermögen, Mrs. Hudson. Einen ehrlichen Tageslohn für eine ehrliche Tagesarbeit, das ist alles, was ich verlangen oder erhoffen kann.«
»Und Haddley Hall - dir gefällt es gut hier, nicht wahr?«
»Recht gut.«
Sie gab mir Gelegenheit einzuhaken, und ich warf sofort den Anker. »Und Will Tadlock, der gefällt dir auch recht gut?«
Ihr Mund stand offen, während sie die Augen verwirrt und überrascht weit aufriß. Sie rutschte unruhig in ihrem Sessel hin und her, wandte sich erst Vi und dann mir zu. »Will Tadlock? Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mrs. Hudson, und das ist die Wahrheit.« »Ach, komm schon, Mary, du und Will - das weiß doch jeder.« Ich warf Violet rasch einen Blick zu. »Stimmt’s nicht, Mrs. Warner?«
»Mhm, das ist schon richtig«, antwortete sie und half, der Lüge Glaubwürdigkeit zu verschaffen. »Ist kein Geheimnis für mich. Auch nicht für andere.«
»Andere, sagen Sie?« rief sie aus und packte die Armlehnen des Sessels mit Fingern, die sich tief in den Stoff bohrten. »A. aber Lady Margaret«, stammelte sie, »sie weiß doch nichts, oder?«
»Nein«, sagte ich, »sie zumindest weiß nichts.« Was aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich der Fall war.
Ihr Körper, den sie noch Augenblicke zuvor so aufrecht gehalten hatte wie ein Leibgardist, fiel plötzlich mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung wie eine Stoffpuppe in sich zusammen.
»Gott sei’s gedankt!« rief sie aus.
Meine Freundin und ich tauschten verwunderte Blicke aus.
»Warum sorgst du dich so im Hinblick auf Lady Margaret?« fragte ich.
Keine Antwort.
Wir saßen schweigend da, bis sich die junge Frau recht unerwartet erhob. »Wenn Sie sonst nichts mehr wünschen, Mrs. Hudson, Mrs. Warner, sollte ich wohl besser wieder an meine Arbeit gehen.«
Ich war durch ihren spontanen Abbruch der Unterhaltung einen Augenblick lang verwirrt. Aber bevor ich sie aus dem Zimmer hinaussegeln ließ, legte ich mich ins Zeug und hoffte, ihre Verteidigung zu entwaffnen.
»Ich glaube nicht, daß dir der Ernst der Situation bewußt ist«, begann ich, als sie sich von mir zur Tür wandte. »Squire St. Clair hat Inspektor Thackeray erzählt, daß er Will und eine junge Frau vergangene Nacht in dem Garten des Gutes gesehen hat. Will sagt, daß du es warst. Der Inspektor hat seine Geschichte dank deiner Aussage, daß du zu der fraglichen Zeit geschlafen hast, ignoriert. Er ist der Ansicht, daß Will Tadlock in Begleitung des Mädchens war, das ermordet wurde. Es tut mir leid, Mary, aber ich denke, du solltest wissen, daß dein junger Freund heute vormittag wegen eines Mordverdachtes verhaftet wurde. Und ich fürchte, der Junge wohnt zur Zeit in einer Zelle in Twillings.«
Mit einem Gesicht, das nun so weiß war wie die Schürze, die sie trug, stolperte Mary einige Schritte rückwärts und schlug eine Hand vor den Mund, als wolle sie einen Aufschrei unterdrücken, während ihr Körper von einer Seite zur anderen taumelte. Ich fürchtete, sie würde ohnmächtig werden.
» Schnell, Vi, fang sie auf!« rief ich.
Bevor jedoch eine von uns die Gelegenheit hatte, etwas zu unternehmen, fiel sie in den Sessel zurück, wobei ihr Körper in zügellosem Kummer bebte.
»Will, wegen Mord verhaftet! Aber er ist doch unschuldig, Mrs. Hudson. Ich schwöre es, bei all den Heiligen im Himmel!« stöhnte sie, wobei Tränen in die blauen irischen Augen traten.
»Dann war er gestern nacht mit dir zusammen«, stellte ich fest.
Sie bestätigte dies unter herzzerreißenden Schluchzern.
»Komm, komm, Mary«, sagte ich und tätschelte ihr sanft die Hand, »es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen.«
Ich gab ihr einen Moment, sich zu sammeln, bevor ich sie fragte, ob sie sich in der Lage fühlte, mir dabei zu helfen, die Ereignisse der Vornacht zu rekonstruieren.
Sie holte ein kleines Leinentaschentuch aus ihrem Ärmel hervor, putzte sich die Nase und tat ihr Bestes, um ein Lächeln aufzubieten.
»Du hast dein Zimmer gestern abend verlassen und bist vom dem Gutshaus hinüber zu Wills Zimmer gegangen, das über dem Stall liegt. Ist das richtig?«
Ich erhielt ein bestätigendes Nicken.
»Zu welcher Zeit ungefähr?«
»Gegen elf, nehm’ ich an. Aber ich bin nicht lange geblieben.«
»Bis wann?«
»Es war nicht später als kurz nach zwölf.« »Bist du allein zurückgekommen?«
»Allein? Nein. Will hat mich zurückbegleitet. Normalerweise macht er es nicht, aber gestern nacht hatten wir, nun, so was wie ‘ne Kabbelei unter Liebenden, wenn Sie so wollen. Er folgte mir nach Hause und versuchte mit seinem honigsüßen Gerede, die Wogen wieder zu glätten.«
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