Hagstrom legte seine große rauhe Hand auf ihren Arm. »Ich nehme an, Sie wissen, was ich mit Ihnen vorhabe«, sagte er grimmig. »Kommen Sie mit, und machen Sie keinen Ärger, sonst leg’ ich Ihnen die Handschellen an.«
Mrs. Russo schüttelte seine Hand ab. »Meine Güte – Sie sind aber ein großer starker Bulle«, murmelte sie. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«
Hagstrom stierte sie an. »Keine Sprüche jetzt!« Sein Finger drückte energisch auf den ›Abwärts‹-Schalter des Aufzugs. »Sie halten einfach den Mund, und kommen mit mir!«
Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Versuchen Sie etwa, mich festzunehmen?« gurrte sie. »Sie wissen doch genau, Sie großer starker Mann, daß Sie einen Haftbefehl dazu brauchen!«
»Ach, halten Sie Ihr Maul!« knurrte er. »Ich nehme Sie nicht fest – ich lade Sie nur zu einem Spaziergang ins Präsidium ein, um ein wenig mit Inspektor Queen zu plaudern. Kommen Sie jetzt mit, oder muß ich Sie mit dem Wagen holen lassen?«
Ein Aufzug hielt. Der Liftboy rief: »Abwärts!« Die Frau blickte einen Augenblick lang unschlüssig auf die Kabine, warf Hagstrom einen verstohlenen Blick zu und trat dann schließlich in den Aufzug, während der Detective ihren Ellenbogen fest im Griff hatte. Sie fuhren unter den neugierigen Blicken einiger Mitfahrender schweigend abwärts.
Hagstrom, unsicher, aber entschieden, spürte, daß sich in der so ruhig neben ihm schreitenden Frau ein Unwetter zusammenbraute und ging keinerlei Risiko ein. Er lockerte seinen Griff nicht, bis sie nebeneinander in einem Taxi in Richtung Präsidium saßen. Trotz des unerschrockenen Lächelns auf ihren Lippen war Mrs. Russo bleich geworden unter ihrer Schminke. Sie wandte sich plötzlich ihrem Wächter zu und schmiegte sich eng an seinen unnahbar wirkenden Körper.
»Mr. Bulle, Liebling«, flüsterte sie, »könntest du nicht einen Hundertdollarschein brauchen?«
Sie spielte bedeutungsvoll mit ihrer Handtasche herum. Hagstrom verlor seine Selbstbeherrschung.
»Bestechung, was?« sagte er höhnisch. »Das müssen wir uns für den Inspektor merken!«
Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau erlosch. Den Rest der Fahrt saß sie nur noch da und hielt ihren Blick starr auf den Nacken des Fahrers gerichtet.
Erst als sie wie ein Soldat auf der Parade die dunklen Gange des Polizeigebäudes heruntergeführt wurde, gewann sie ihr sicheres Auftreten zurück. Und als ihr Hagstrom die Tür zu Inspektor Queens Büro aufhielt, ging sie mit einem leichten Kopfnicken und freundlichem Lächeln hinein, so daß sogar eine Polizistin getäuscht worden wäre.
Inspektor Queens Büro vermittelte eine heitere farbenfrohe Atmosphäre mit viel Sonnenschein. Im Augenblick sah es aus wie ein Clubzimmer. Ellerys lange Beine waren entspannt auf dem dicken Teppich ausgestreckt, er selbst schien ganz in Anspruch genommen von der Lektüre eines kleinen, billig eingebundenen Buches mit dem Titel ›Handbuch der Handschriftenkunde‹. Um seine Finger kräuselte sich der Rauch einer Zigarette. Sergeant Velie saß müßig auf einem an die hintere Wand gelehnten Stuhl und war ganz versunken in die Betrachtung von Inspektor Queens Schnupftabakdose, die der alte Polizeibeamte liebevoll zwischen Daumen und Zeigefinger einer Hand hielt. Queen saß in seinem bequemen Sessel und schmunzelte über einige geheime Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen.
»Ah! Mrs. Russo! Nur hereinspaziert!« rief der Inspektor und sprang dabei auf. »Thomas – bitte einen Stuhl für Mrs. Russo.« Der Sergeant stellte schweigend einen der kahlen Holzstühle neben den Schreibtisch des Inspektors und zog sich dann wieder schweigend in seine Ecke zurück. Ellery hatte noch nicht einmal aufgeschaut. Er las weiter mit demselben abwesenden Lächeln auf den Lippen. Der alte Mann verneigte sich in zuvorkommender Weise vor Mrs. Russo.
Diese schaute verwirrt auf die friedvolle Szene um sich herum. Sie war auf Strenge, Härte und Unerbittlichkeit vorbereitet gewesen – die heimelige Atmosphäre in dem kleinen Büro überraschte sie völlig. Trotzdem nahm sie Platz und zeigte – nach einem nur kurzen Zögern – wieder dasselbe gewinnende Lächeln, dieselbe damenhafte Haltung, die sie bereits so erfolgreich auf den Fluren einstudiert hatte.
Hagstrom blieb in der Tür stehen und blickte mit dem Ausdruck gekränkter Würde auf die vor ihm sitzende Frau.
»Sie hat versucht, mir einen Hunderter zuzuschieben«, sagte er entrüstet. »Versuchte, mich zu bestechen, Chef!«
Queen zog schockiert die Augenbrauen hoch. »Meine liebe Mrs. Russo!« rief er mit besorgter Stimme aus. »Sie wollten doch nicht wirklich diesen hervorragenden Polizisten dazu bringen, seine Pflichten gegenüber unserer Stadt zu vergessen, oder? Aber natürlich nicht! Wie dumm von mir! Hagstrom, mein lieber Junge, Sie haben sicher etwas falsch verstanden. Hundert Dollar –« Er schüttelte traurig den Kopf und ließ sich in seinen ledernen Drehstuhl zurücksinken.
Mrs. Russo lächelte. »Ist es nicht merkwürdig, wie schnell diese Polizisten einen falschen Eindruck bekommen?« fragte sie mit lieblicher Stimme. »Ich kann Ihnen versichern, Inspektor – ich habe nur ein wenig Spaß gemacht …«
»So ist es«, sagte der Inspektor und lächelte noch einmal, als hätte diese Erklärung seinen Glauben in die menschliche Natur wiederhergestellt. »Hagstrom, das ist alles.«
Der Detective, der mit offenem Mund von seinem Vorgesetzten zu der lächelnden Frau blickte, gewann gerade noch rechtzeitig seine Fassung wieder, um wahrzunehmen, wie sich Velie und Queen über den Kopf der Frau hinweg zuzwinkerten. Vor sich hin brummend, eilte er aus dem Zimmer.
»Nun, Mrs. Russo«, begann der Inspektor in geschäftsmäßigem Ton, »was können wir heute für Sie tun?«
Sie starrte ihn erstaunt an. »Aber – aber, ich dachte, Sie wollten mich sehen …« Sie kniff die Lippen zusammen. »Hören Sie doch mit dieser Komödie auf, Inspektor!« sagte sie schroff. »Freiwillig mache ich hier keine Anstandsbesuche, das wissen Sie genau. Warum haben Sie mich herbringen lassen?«
Der Inspektor streckte seine sensiblen Finger abwehrend aus; protestierend spitzte er die Lippen. »Aber meine liebe Dame!« sagte er. »Es gibt bestimmt etwas, was Sie mir erzählen wollen. Denn, wenn Sie hier sind – und um diese augenscheinliche Tatsache kommen wir nicht herum –, sind Sie aus gutem Grund hier. Auch wenn ich Ihnen zugestehe, daß Sie nicht ganz aus freiem Willen hergekommen sind – Sie sind auf jeden Fall hergebracht worden, weil Sie mir etwas zu erzählen haben. Ist Ihnen das nicht klar?«
Mrs. Russo blickte ihm fest in die Augen. »Was zum – also hören Sie mal, Inspektor, worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Was glauben Sie, habe ich Ihnen zu erzählen? Ich habe alle Fragen, die Sie mir am Dienstag gestellt haben, beantwortet.«
»Gut!« antwortete der alte Mann zornig. »Ich würde sagen, daß Sie am Dienstag morgen nicht alle Fragen vollkommen aufrichtig beantwortet haben. Zum Beispiel – kennen Sie Benjamin Morgan?«
Sie zuckte nicht mit der Wimper. »In Ordnung. Damit haben Sie ins Schwarze getroffen. Ihr Spürhund hat mich erwischt, wie ich gerade aus Morgans Büro kam – na und?« Sie öffnete lässig ihre Handtasche und begann, sich ihre Nase zu pudern. Während sie das tat, warf sie Ellery einen verstohlenen Blick zu. Er war immer noch in sein Buch vertieft und hatte ihre Anwesenheit noch nicht zur Kenntnis genommen. Sie warf den Kopf zurück und wandte sich wieder dem Inspektor zu.
Queen sah sie bekümmert an. »Meine liebe Mrs. Russo, Sie sind nicht fair zu einem alten Mann. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß Sie – soll ich sagen – mich belogen haben, als wir uns das letzte Mal gesprochen haben. Das ist nun einmal ein gefährliches Unterfangen bei Polizeiinspektoren, meine Liebe, ein äußerst gefährliches.«
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