»Wir wollen nichts weiter als eine ehrliche Antwort, Ma’am«, beharrte Dr. Fell. »Oder sagen wir: Ihren ehrlichen Eindruck. Der Himmel stehe dem Menschen bei, der versuchen will, die ganze Wahrheit zu sagen. Aber wie war das – kannten Sie Victoria Daly gut?«
»Recht gut. Die arme Victoria hat sich immer bei guten Werken engagiert.«
»Würden Sie sagen« – Dr. Fell gestikulierte mit seiner Pfeife –, »würden Sie sagen, sie war auch jemand, bei dem Sie sich ein tiefergehendes Interesse am Thema Hexerei vorstellen könnten?«
Molly ballte die Fäuste.
»Können Sie mir bitte verraten, was dieses Hexengerede mit unserer Sache zu tun haben soll? Wenn es wirklich ein Buch über Hexerei ist – und wenn es aus der Dachkammer kommt, wird es das wohl sein –, beweist das denn etwas, nur weil sie darin gelesen hat?«
»Es gibt noch andere Indizien, glauben Sie mir«, sagte Dr. Fell sanft. »Wenn Sie nur ein wenig nachdenken, Ma’am, werden Sie darauf kommen, daß das Entscheidende die Verbindung aus Miss Daly und einer verschlossenen Bibliothek und diesem Buch ist. Zum Beispiel: Kannte Ihr Mann sie gut?«
»Hm. Das weiß ich nicht. Aber ich glaube kaum.«
Dr. Fell runzelte die Stirn. »Bedenken Sie aber nun sein Benehmen am gestrigen Abend, so wie man es mir beschrieben hat. Wenn ich es recht verstehe, war es doch so: Ein Mann, der Anspruch auf seinen Besitz erhebt, erscheint. Dieser Besitz, ob er ihn nun zu Recht hält oder nicht, ist die wichtigste Triebfeder in seinem Leben. Und nun steht seine Festung unter Beschuß. Mr. Gore und Mr. Welkyn mit ihren glaubwürdigen Geschichten und dem tödlichen Beweis der Fingerabdrücke stehen bereit zum Sturm. Gewiß, er geht nervös im Zimmer auf und ab – aber in dem Augenblick, in dem der Gegner zum Angriff bläst, scheint ihn eher die Tatsache zu beschäftigen, daß ein Detektiv im Dorf ist, der im Mordfall Victoria Daly ermittelt. Stimmt das nicht?«
Doch, es stimmte. Page erinnerte sich nur zu gut. Und Molly konnte es nicht leugnen.
»Sie sehen, unser Faden wird immer länger. Lassen Sie uns ihm folgen und sehen, wohin er uns führt. Diese versperrte Dachkammer kommt mir immer verlockender vor. Ist eigentlich noch etwas anderes oben außer Büchern?«
Molly zögerte.
»Nur diese künstliche Figur. Ich habe sie einmal gesehen, als ich noch ein kleines Mädchen war, und mochte sie sehr. Ich habe meinem Mann vorgeschlagen, daß wir sie doch herunterholen könnten und sehen, ob wir sie nicht zum Laufen brächten – ich mag solche mechanischen Sachen –, aber auch davon wollte er nichts hören.«
»Ah, die künstliche Figur«, wiederholte Dr. Fell und setzte sich mit einem Schnaufen aufrechter. »Können Sie uns davon mehr erzählen?«
Molly schüttelte den Kopf, und Kennet Murray sprang ein.
»Das wäre ein Thema für Sie, Doktor«, sagte Murray schwungvoll und machte es sich in seinem Sessel wieder bequemer, »da würde es sich lohnen, genauer nachzuforschen. Ich selbst habe vor Jahren mein Glück versucht, und der junge Johnny ebenfalls.«
»Und?«
»Die Fakten, die ich herausfinden konnte, sind folgende.« Murray legte besonderes Gewicht auf das Wort. »Sir Dudley hat mir nie gestattet, die Figur anzusehen, und ich mußte rein detektivisch vorgehen. Erbauer war Monsieur Raisin, der Organist in Troyes, der auch für Ludwig XIV. das von selbst spielende Cembalo baute, und in den Jahren 1676 und 1677 wurde die Figur mit großem Erfolg am Hof Karls II. gezeigt. Sie war beinahe lebensgroß, saß auf einer Art Sofa und war, heißt es, in ihrem Äußeren einer der Hofdamen nachgebildet, auch wenn Unklarheit darüber besteht, welcher. Was sie tat, versetzte die Leute damals in Begeisterung. Sie spielte zwei oder drei Melodien auf einer Cittern (dem Vorfahren unserer heutigen Zither), und sie drehte den Zuschauern eine lange Nase und hatte noch eine Reihe weiterer Gesten im Repertoire, einige davon höchst ungehörig.«
Sein Publikum lauschte gebannt.
»Sir Thomas Farnleigh, dessen Exlibris Sie in diesem Buch sehen, erwarb den Automaten«, sagte Murray. »Ob es das unanständige Betragen der Puppe war oder etwas anderes, was später dafür sorgte, daß sie in Ungnade fiel, habe ich nicht ermitteln können. Aber etwas fiel vor – und alle schweigen sich darüber aus, was es war. Der Grund scheint nicht schwerwiegend genug für das Entsetzen, das die Figur im achtzehnten Jahrhundert offenbar hervorrief, auch wenn man verstehen kann, daß ein solcher Apparat nicht gerade das Wohlwollen von Sir Dudley oder das seines Vaters oder Großvaters weckte. Man darf davon ausgehen, daß der alte Thomas wußte, wie sie in Gang zu setzen war, aber anscheinend wurde das Geheimnis nicht weitergegeben. Stimmt’s, junger Jo… – bitte um Verzeihung – Sir John?«
Gore war sichtlich verärgert über diese dick aufgetragene Höflichkeit, doch sein Interesse an anderen Dingen war zu groß.
»Sie haben recht«, bestätigte Gore, »das Geheimnis ging verloren. Und niemand wird es je wiederfinden. Das weiß ich, meine Herren. In jungen Jahren habe ich mir das Hirn zermartert, um hinter das Geheimnis der Goldhexe zu kommen. Ich könnte Ihnen leicht vorführen, daß keine der naheliegenden Erklärungen zutrifft. Wenn wir …« Er machte ein verblüfftes Gesicht. »Bei allen Göttern, warum gehen wir nicht einfach nach oben und sehen sie uns an? Daß ich darauf nicht früher gekommen bin. Ich weiß gar nicht, wo ich mit meinen Gedanken bin. Die ganze Zeit habe ich überlegt, unter welchem Vorwand ich nach oben kommen oder wie ich mich heimlich hinaufschleichen könnte, wie ich es früher immer getan habe. Aber warum nicht? Warum nicht ganz offen, im schönsten Tageslicht?«
Er schlug mit der Faust auf seine Sessellehne und blinzelte leicht, als sei auch er eben erst ans Licht des Tages gekommen. Inspektor Elliot fuhr mit schneidender Stimme dazwischen.
»Einen Moment, Sir«, sagte Elliot. »Das ist alles hochinteressant, und zu einem anderen Zeitpunkt können wir uns gern damit beschäftigen, aber ich wüßte nicht, was es mit unserem Fall zu tun …«
»Sind Sie sicher?« fragte Dr. Fell.
»Sir?«
»Sind Sie sicher?« wiederholte der Doktor mit großem Nachdruck. »Kann mir jemand beschreiben, wie dieser Automat aussieht?«
»Er ist natürlich inzwischen ziemlich unansehnlich geworden; jedenfalls war er das vor fünfundzwanzig Jahren …«
»Das ist wahr«, stimmte Madeline Dane mit einem Schaudern zu. »Bitte gehen Sie nicht dort hinauf. Ich flehe Sie an!«
»Aber warum denn nicht?« rief Molly.
»Ich weiß nicht. Ich habe Angst.«
Gore weidete sich an ihrem Anblick.
»Ja, vage erinnere ich mich noch, daß es dich seinerzeit beeindruckt hat. Aber Sie wollten wissen, wie die Figur aussieht, Doktor. Sie muß verblüffend lebensecht gewesen sein, als sie neu war. Der Körper ist natürlich aus Eisenteilen zusammengesetzt, aber das ›Fleisch‹ ist Wachs, mit Glasaugen – eines fehlte – und echtem Haar. Im Alter ist sie nicht schöner geworden; sie ist recht dick, und wenn man in der richtigen Stimmung war, konnte sie einem schon ziemlich angsteinflößend vorkommen. Sie trägt oder trug seinerzeit ein Brokatkleid. Hände und Finger sind aus lackiertem Eisen. Damit sie die Zither spielen und ihre Gesten machen konnte, sind die Hände lang und gelenkig und spitz, fast wie … Früher hat sie gelächelt, aber als ich sie zuletzt sah, war sie so verfallen, daß man es nicht mehr erkennen konnte.«
»Und Betty Harbottle«, sagte Dr. Fell unvermittelt, »Betty Harbottle hat, wie einst Eva, eine Schwäche für Äpfel.«
»Wie bitte?«
»Doch, erinnern Sie sich«, drängte Dr. Fell. »Betty Harbottle, das verängstigte Hausmädchen, ißt gerne Äpfel. Das war das erste, was wir erfahren haben, als wir das Personal befragten. Ich würde vermuten, die wackere Haushälterin, Mrs. Apps, wollte uns damit etwas zu verstehen geben. Bei den Mysterien von Eleusis, das ist die Lösung! Und Sie« – das rote Gesicht des Doktors glänzte vor Konzentration, als er zu Gore hinüberblickte –, »Sie haben mir eben gesagt, daß Sie einen Vorwand hatten, wenn Sie hinauf zu den Büchern und der Goldhexe wollten. Sie gingen sich einen Apfel holen, auf dem Dachboden gleich nebenan. Möchte jemand eine Wette mit mir eingehen, wo Betty Harbottle war, als sie sich so gräßlich erschrak, und wo das Heft mit den Fingerabdrücken die Nacht über verborgen war?«
Читать дальше