»Ich unterstütze den Antrag«, sagte Dr. Fell.
Murray machte es sich bequemer und hob warnend den Zeigefinger.
»Wenn man sich der puren Logik verschreibt«, hob er an, »ist das oft vergleichbar mit einer gewaltigen Rechenaufgabe, bei der wir irgendwann feststellen, daß wir vergessen haben, ›eins im Sinn‹ zu behalten oder mit zwei zu multiplizieren. Jede unter tausend Zahlen kann dann korrekt sein, nur die eine nicht, und die Abweichung im Ergebnis ist enorm. Deshalb will ich es nicht als Logik verstanden wissen, was ich sage. Es ist nur ein Vorschlag. – Sie wissen, Inspektor, daß das Urteil der gerichtlichen Untersuchung fast mit Sicherheit auf Selbstmord lauten wird?«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Sir. Nicht unbedingt«, erklärte Elliot. »Ein Heft wurde gestohlen und zurückerstattet, ein Mädchen beinahe zu Tode erschreckt …«
»Sie wissen ebensogut wie ich«, sagte Murray und sah ihn eindringlich an, »zu welchem Urteil die Geschworenen kommen werden. Es ist zumindest halbwegs vorstellbar, daß der Tote Selbstmord beging und das Messer fortwarf, und es ist unmöglich, daß er ermordet wurde. Ich persönlich gehe allerdings davon aus, daß es Mord war.«
»Hä«, sagte Dr. Fell und rieb sich die Hände. »Hä-hä-hä. Und Ihre Theorie?«
»Immer vorausgesetzt, es war Mord«, sagte Murray, »würde ich sagen, daß das Opfer nicht mit dem Messer umgebracht wurde, das wir hier vor uns haben. Für meine Begriffe sind die Verletzungen an seiner Kehle eher wie die Male von Reißzähnen oder Krallen.«
»Krallen?« fragte Elliot.
»Ich hatte mir erlaubt, den Ausdruck etwas freier zu gebrauchen«, sagte Murray, nun so schulmeisterlich, daß Page ihn am liebsten vors Schienbein getreten hätte. »Es müssen nicht unbedingt die Krallen eines Tiers gewesen sein. Soll ich Ihnen erläutern, was mir durch den Kopf geht?«
Elliot lächelte. »Nur zu. Mir soll’s recht sein. Und ich könnte mir vorstellen, daß Sie noch eine Menge zu erläutern haben.«
»Dann stellen Sie sich einmal folgendes vor«, sagte Murray, nun plötzlich wieder im Plauderton. »Wenn wir davon ausgehen, daß es Mord war, und wenn wir uns vorstellen, daß das Messer die Tatwaffe war, dann ergibt sich dabei eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Und zwar diese: Warum hat der Mörder das Messer nicht anschließend in den Teich geworfen ?«
Doch auch weiterhin sah der Inspektor ihn nur fragend an.
»Überlegen Sie doch, wie es war. Derjenige, der diesen Mann umgebracht hat, hatte sich ein fast perfektes – äh …«
»Arrangement?« schlug Gore vor, als der andere zögerte.
»Ein gräßliches Wort, Johnny, aber es wird reichen. Also. Der Mörder hatte sich ein fast perfektes Arrangement ausgedacht, bei dem alles auf Selbstmord verweisen würde. Stellen Sie sich vor, er hätte seinem Opfer die Kehle durchschnitten und das Messer in den Teich geworfen. Kein Mensch hätte anschließend daran gezweifelt, daß es Selbstmord war. Das Opfer war ein Hochstapler, dessen Entlarvung bevorstand – der Selbstmord schien sein einziger Ausweg. Selbst so wie die Dinge jetzt stehen, haben Sie ja Mühe zu glauben, daß er sich nicht selbst umgebracht hat. Hätte das Messer im Teich gelegen, wäre es ein eindeutiger Fall gewesen. Das hätte sogar als Erklärung gereicht, daß der Tote keine Fingerabdrücke auf dem Messer hinterlassen hatte.
Nun lasse ich mir, meine Herren, nicht erzählen, daß der Mörder nicht wollte, daß es aussah wie Selbstmord. Jeder Mörder wünscht sich das. Wenn es sich einrichten läßt, ist ein falscher Selbstmord für ihn der beste Schutz. Warum ist also das Messer nicht im Teich gelandet? Es hätte niemanden belastet außer den Toten: ein weiteres Indiz dafür, daß er sich umgebracht hatte – und vermutlich der Grund dafür, daß der Täter dieses Mittel wählte. Doch statt dessen nimmt der Mörder es und steckt es (wenn ich mich Ihrer Deutung anschließe) in eine Hecke drei Meter vom Teich fort.«
»Und was beweist das?« fragte Elliot.
»Das beweist überhaupt nichts.« Murray hob den Finger. »Aber es deutet eine ganze Menge an. Überlegen Sie nun, wie dieses Verhalten zu dem Verbrechen paßt. Glauben Sie dem alten Knowles seine Geschichte?«
»Im Augenblick sind wir bei Ihren Theorien, Sir.«
»Das ist eine legitime Frage«, erwiderte Murray recht streng, und Page hatte das Gefühl, daß er nur mit Mühe ein »Nicht so zimperlich, junger Herr« unterdrückte. »Wenn wir so weitermachen, kommen wir zu nichts.«
»Genausowenig kommen wir weiter, wenn wir sagen, daß ich an etwas Unmögliches glaube, Mr. Murray.«
»Dann glauben Sie also, es war Selbstmord?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»An was glauben Sie dann?«
Elliot unterdrückte ein Grinsen. »So wie Sie zubeißen, Sir, sollte ich wohl besser antworten. Es gibt – sagen wir – Indizien, die Knowles’ Darstellung stützen. Lassen Sie uns der Einfachheit halber davon ausgehen, daß ich ihm seine Geschichte abnehme oder zumindest überzeugt bin, daß er sie für die Wahrheit hält. Wie geht es dann weiter?«
»Nun, wir können folgern, daß er nichts gesehen hat, weil es nichts zu sehen gab. Das läßt sich kaum bezweifeln. Der Mann am Teich stand allein, umgeben von einer Fläche aus Sand. Folglich ist kein Mörder zu ihm getreten. Folglich geschah der Mord nicht mit dem schartigen und dramatisch blutbefleckten Messer, das wir hier vor uns liegen haben; das Messer wurde später in die Hecke gesteckt, damit Sie glauben sollten, es sei die Tatwaffe. Stimmen Sie mir soweit zu? Da das Messer nicht durch die Luft geflogen sein, ihm dreimal die Kehle durchschnitten und dann einen Satz in die Hecke gemacht haben kann, können wir folgern, daß es nicht die Tatwaffe war. Das ist doch überzeugend, oder?«
»Also ich weiß nicht«, wandte der Inspektor ein. »Sie sagen, es war eine andere Waffe. Kam denn dann diese andere Waffe durch die Luft geflogen, fügte ihm drei Schnitte durch die Kehle zu und flog wieder davon? Nein, Sir. Das glaube ich erst recht nicht. Da bin ich ja noch besser dran, wenn ich mich an das Messer halte.«
»Lassen Sie uns fragen, was Dr. Fell davon hält«, entgegnete Murray, offensichtlich gekränkt. »Was meinen Sie, Doktor?«
Dr. Fell schnaufte. Ein geheimnisvolles Brodeln und Rumpeln in seinem Inneren ließ Widerspruch erwarten, doch seine Worte waren milde.
»Ich bleibe beim Messer. Außerdem hat sich mit Sicherheit etwas in dem Garten bewegt, und zwar etwas, das mir alles andere als geheuer ist. Inspektor, Sie haben die Zeugenaussagen aufgenommen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich noch ein wenig darin stochere? Ich würde gern dem interessantesten Mann hier im Raum ein paar Fragen stellen.«
»Dem interessantesten Mann?« fragte Gore und setzte sich in Positur.
»Hmpf. Ich meine natürlich«, sagte Dr. Fell, hob seinen Stock und zeigte auf ihn, »Mr. Welkyn.«
Superintendent Hadley hatte sich schon oft über diese Angewohnheit beklagt. Dr. Fell, pflegte er zu sagen, ist ein wenig zu überzeugt davon, daß das Wahre immer das Falsche ist oder doch das Unerwartete, und mit beiden Händen schwingt er seine Fahnen auf den Trümmern der Logik. Page wäre nie auf die Idee gekommen, Harold Welkyn als den interessantesten Mann im Raum anzusehen. Der fette Anwalt mit seinem langen griesgrämigen Kinn schien nicht minder überrascht. Aber Hadley mußte auch immer wieder zugeben, daß der alte Gauner ja leider oft genug recht hatte.
»Mich meinen Sie, Sir?« fragte Welkyn.
»Vor einer Weile habe ich zum Inspektor gesagt, daß Ihr Name mir äußerst bekannt vorkam«, sagte Dr. Fell. »Ich weiß jetzt wieder, woher. Interessieren Sie sich ganz allgemein für das Okkulte? Oder sammeln Sie kuriose Klienten? Ich könnte mir vorstellen, daß Sie unseren Freund hier« – er nickte in Richtung Gore – »ebenso für Ihre Sammlung requiriert haben wie seinerzeit den Ägypter.«
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