»Wo ist das Portefeuille?« fragte das Gespenst in pfeifendem Flüstern. »Wo ist mein Portefeuille? Die Seele habe ich dafür hingegeben.«
»Das kriegen Sie nicht!« brach es von Fandorins trockenen Lippen. Er fegte zum Sessel, in dessen Tiefen die gestohlene Mappe verborgen war, ließ sich auf das Polster fallen, versuchte den Sessel gar zu umklammern.
Das Gespenst trat zum Tisch. Es riß ein Streichholz an, entzündete die Kerze und rief, nun auf einmal in sonorem Ton: »Your turn now! He’s allyours!«
Zwei Männer kamen ins Zimmer gestürmt: der baumlange Morbid (sein Kopf reichte bis an den Türbalken) und ein kleiner, flinker.
Fandorin war vor Schrecken starr, er zuckte nicht einmal, als der Butler ihm das Messer an die Kehle setzte, während der andere ihn geschickt abtastete und die Deringer im Stiefelschaft fand.
Morbid befahl ihm auf englisch, auch den Revolver zu suchen; der Kleine machte seine Sache gut, fand das Versteck unter dem Kissen auf Anhieb.
Währenddessen stand Amalia am Fenster und rieb sich Gesicht und Hände mit dem Taschentuch ab.
»Seid ihr soweit?« fragte sie ungeduldig. »Dieses Phosphorzeug ist ja so ekelhaft. Und dabei war die ganze Maskerade für die Katz. Sein Grips reicht nicht aus, das Portefeuille ordentlich zu verstecken. John, sehen Sie im Sessel nach.«
Dabei blickte sie Fandorin gar nicht mehr an - als hätte er sich plötzlich in einen leblosen Gegenstand verwandelt.
Mit Leichtigkeit riß Morbid ihn aus dem Sessel hoch, während er die Klinge weiter an seine Kehle gedrückt hielt; der Kleine schob die Hand in das Polster und zog das blaue Portefeuille hervor.
»Geben Sie her!« Die Beshezkaja trat zum Tisch und prüfte den Inhalt. »Alles da. Er hat noch nichts weggeschickt. Na, Gott sei Dank. Franz, bringen Sie mir den Mantel, ich bin völlig durchfroren.«
»Ist das das Ende der Vorstellung?« fragte Fandorin, der die Fassung wiedergewann, mit kippender Stimme. »Bravo! Sie sind eine vortreffliche Aktrice. Daß meine Kugel ihr Ziel verfehlt hat, tröstet mich. Um so ein Talent wäre es doch jammerschade gewesen.«
»Und vergessen Sie den Knebel nicht!« wies Amalia den Butler an, warf sich den von Franz gebrachten Mantel über die Schultern und verließ das Zimmer, ohne den beschämten Fandorin noch eines Blickes zu würdigen.
Der flinke Kleine (er also war es, der das Hotel observiert hatte, nicht Surow) holte ein Knäuel dünnen Strick aus der Tasche und band seinem Gefangenen die Arme fest an den Körper. Dann drückte er ihm mit zwei Fingern die Nase zu; als Fandorin die Luft knapp wurde und er den Mund aufriß, bekam er eine Kautschukbirne hineingestopft.
»Ordnung muß sein«, sagte Franz mit leichtem deutschen Akzent; das Ergebnis seiner Arbeit schien ihn zu befriedigen. »Jetzt noch den Sack.«
Er sprang auf den Flur hinaus und war im nächsten Augenblick zurück. Das letzte, was Fandorin sah, bevor man ihm das grobe Sackleinen über Kopf und Schultern bis zu den Knien zog, war John Morbids ungerührte, absolut steinerne Physiognomie. Daß die Welt sich ihm zuletzt von dieser nicht eben bezaubernden Seite zeigte, war bedauerlich, die staubige Finsternis im Sack war jedoch noch ärger.
»Warte, ich will außen noch einen Strick darumbinden«, rief die Stimme von Franz. »Die Fahrt ist zwar nicht weit, aber so ist es sicherer.«
»Wie soll er denn da rauskommen?« entgegnete Morbids
Baß. »Er braucht nur zu zucken, und ich ramme ihm das Messer in den Wanst.«
»Trotzdem besser so!« flötete Franz und zog einen Strick um den Sack - so straff, daß Fandorin Mühe bekam zu atmen.
»Auf geht’s!« Der Butler stieß den Gefangenen vorwärts, und Fandorin tappte blind drauflos, ohne recht zu begreifen, warum sie ihm nicht gleich hier im Hotelzimmer den Garaus machten.
Zweimal stolperte er und wäre über die Schwelle des Hauses gestürzt, wenn Johns Pranken ihn nicht noch bei der Schulter gepackt hätten.
Es roch nach Regen. Pferde schnaubten.
»Wenn ihr beiden fertig seid, kommt ihr noch mal her und räumt auf«, ließ die Beshezkaja sich hören. »Wir fahren schon mal.«
»Keine Bange, Ma’am«, brummte der Butler. »Sie haben Ihre Arbeit getan, jetzt sind wir an der Reihe.«
Oh, wie gern hätte Fandorin Amalia noch ein gebührendes Wort mit auf den Weg gegeben, etwas ganz Besonderes, damit sie ihn nicht als feigen Tolpatsch im Gedächtnis behielte, sondern als Teufelskerl, heldenhaft gefallen im ungleichen Kampf gegen eine ganze Armee von Nihilisten. Der widerwärtige Knebel verwehrte ihm diese letzte Genugtuung.
Und damit nicht genug. Auf den Unglücksraben wartete eine weitere Erschütterung - auch wenn man hätte annehmen dürfen, daß ihn nach alledem nichts mehr erschüttern konnte.
»Amalia Kasimirowna, mein Herzchen«, drang ein samtener Tenor an Fandorins Ohr. Den kannte er. »Erlauben Sie einem alten Knilch wie mir, die Kutsche mit Ihnen zu teilen.
Es plaudert sich netter mit einem Dach überm Kopf, schauen Sie nur, wie ich triefe. Ihr Patrick könnte meine Droschke nehmen und hinter uns herfahren, Sie haben doch nichts dagegen, mein Täubchen?«
»Steigen Sie ein!« erwiderte die Beshezkaja trocken. »Nur bin ich nicht Ihr Herzchen, Pyshow, und Ihr Täubchen schon gar nicht.«
Fandorin brachte es nur zu einem dumpfen Winseln; sein Unglück herauszubrüllen war mit dem Knebel ganz unmöglich. Die ganze Welt hatte sich gegen ihn verschworen. Kein Herkules konnte einer solchen Übermacht von Bösewichten trotzen. Wo man hinsah, nichts als Verräter, arglistige Nattern. (Puh, jetzt drückte er sich schon genauso verquer aus wie Pyshow, dieses Scheusal!) Erst die Beshez- kaja mit ihren Halsabschneidern, dann Surow und jetzt auch noch Pyshow - alles falsche Fünfziger, alles Feinde. Nein, in diesem Augenblick hatte Fandorin das Leben gründlich satt, so sehr war er von Abscheu erfüllt und von unendlicher Müdigkeit.
Im übrigen gab sich momentan niemand Mühe, ihm das Leben schmackhaft zu machen. Seine Begleitung schien diesbezüglich ganz andere Absichten zu hegen.
Der Gefangene wurde von kräftiger Hand gepackt und auf einen Sitz gedrückt. Links von ihm ließ der massige Morbid sich nieder, rechts Franz, das Fliegengewicht, der die Peitsche knallen ließ, worauf es Fandorin nach hinten in den Sitz riß.
»Wohin?« fragte der Butler.
»Pier sechs war gesagt. Da soll das Wasser tief und die Strömung günstig sein. Was meinst du?«
»Ich habe dazu keine Meinung. Von mir aus Pier sechs.«
Womit das Schicksal, das Fandorin drohte, zur Genüge erhellt war. Man fuhr zu irgendeinem abgelegenen Hafenbecken, dort bekam er einen Stein an den Hals und einen Stoß von hinten, und dann durfte er auf dem Grund der Themse, zwischen rostigen Ankern und Flaschenscherben vor sich hin faulen. Titularrat Fandorin würde spurlos verschollen sein, denn tatsächlich hatte ihn nach dem Pariser Militärattache niemand mehr zu Gesicht bekommen. Iwan Brilling mußte annehmen, daß sein Schützling irgendwo vom Weg abgekommen war, er würde die Wahrheit nie erfahren. Und niemand würde ahnen, in Moskau so wenig wie in Petersburg, welch miesen Gauner sie da in ihrem Geheimdienst sitzen hatten. Dem man schleunigst das Handwerk legen mußte!
Nun ja. Vielleicht bot sich dazu noch Gelegenheit.
Gefesselt, in diesen großen, staubigen Sack gesteckt, fühlte Fandorin sich doch unvergleichlich besser als zwanzig Minuten zuvor, als das phosphoreszierende Gespenst vor dem Fenster aufgetaucht war und der gräßliche Anblick ihm den Verstand gelähmt hatte.
Eine Chance zu entkommen gab es nämlich noch. Bei aller Fingerfertigkeit hatte es dieser Franz versäumt, den rechten Ärmel abzutasten. In diesem Ärmel steckte das Stilett, das nun Fandorins ganze Hoffnung war. Vorausgesetzt, er war geschickt genug, mit den Fingern an den Griff zu kommen. Was durchaus nicht einfach war, da der Arm am Oberschenkel festhing. Wie weit mochte es sein bis zu diesem Pier sechs? Ob er es bis dahin schaffte?
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