»Schön, schön«, lenkte Pyshow ein, »ganz wie Sie wollen. Dann kann ich um so ruhiger schlafen. Was sollen mir fremde Geheimnisse, ich hab an meinen eigenen genug zu tragen. Ein sicherer Ort ist ein sicherer Ort.« Er erhob sich, sein Blick huschte über die kahlen Zimmerwände. »Dann legen Sie sich einstweilen noch ein bißchen aufs Ohr, mein Freund. Die Jugend braucht ihren Schlaf. Ich alter Knilch kann sowieso nicht mehr schlafen, werde mich also einstweilen um das Boot kümmern. Morgen, was sag ich, heute, noch vor Sonnenaufgang bin ich wieder bei Ihnen, geleite Sie zum Kai, Küßchen zum Abschied und drei Kreuze. Derweil ich armer Waisenknabe mein Brot fern der Heimat knabbere. Tja. Selbst der Hund von Afanassi geht in der Fremde ungern Gassi.«
An dieser Stelle merkte Pyshow wohl selbst, daß er gar zu viel Sirup an seine Rede goß, reuig hob er die Arme.
»Pardon, ich verplaudere mich. Man schmachtet in der Fremde nach der lebendigen russischen Rede und legt sich so allerlei Schlenkerchen zu. Unsere Klügler an der Botschaft ziehen es vor, französisch zu parlieren, man hat keinen, dem man sein russisches Herz ausschütten kann.«
Draußen vor dem Fenster krachte es bedenklich, es hatte wohl auch schon zu regnen begonnen. Pyshow wurde unruhig, rüstete zum Aufbruch.
»Ich muß. Ojojoi, von ferne dräuen Ungewitter ...«
In der Tür drehte er sich noch einmal um, ließ einen letzten, zärtlichen Blick über Fandorin gehen und verschwand, nicht ohne eine tiefe Verbeugung, in der Finsternis des Korridors.
Fandorin verriegelte die Tür und zog fröstelnd die Schultern hoch. In diesem Moment krachte ein Donnerschlag, man konnte meinen, direkt auf das Dach des »Ferry Road« herunter.
Dunkel und grausig ist die kärgliche Kammer, deren einziges Fenster auf den kahlen, gepflasterten Innenhof geht, wo kein Grashalm wächst. Dort draußen ist es naß, dort pfeifen Regen und Wind, doch zwischen den Wolkenfetzen am schwarzgrauen Himmel treibt der Mond. Ein gelber Strahl dringt durch den Spalt zwischen den Vorhängen herein in die Höhle, fährt mitten hindurch bis zum Bett, wo Fandorin, von einem Alptraum geplagt, in kaltem Schweiß sich wälzt. Vollständig angezogen liegt er da - Schuhe an den Füßen, Waffen zur Hand -, nur der Revolver lagert noch unter dem Kopfkissen.
Sein vom Mord bedrücktes Gewissen beschert dem armen Fandorin ein gräßliches Traumbild. Die tote Amalia beugt sich über sein Bett. Ihre Augen sind halb geschlossen, ein Tröpfchen Blut rinnt unter den Wimpern hervor, sie hält eine schwarze Rose in der bleichen Hand.
»Was hab ich dir getan?« beklagt sich die Tote bei ihm. »Ich war jung und schön, ich war unglücklich und einsam. Man hat mich in ein Netz gelockt, man hat mich betrogen und verführt. Der einzige, den ich liebte, hat mich verraten. Du hast eine schreckliche Sünde begangen, Erast, du hast die Schönheit getötet, dabei ist sie, die Schönheit, ein Wunder des Herrn. Du hast das Wunder des Herrn mit Füßen getreten. Warum nur, wozu?«
Der blutige Tropfen rinnt von ihrer Wange, fällt auf Fan- dorins Stirn, die Kälte läßt ihn erschauern, er reißt die Augen auf. Sieht, daß keine Amalia da ist, gottlob. Ein Traum, nichts als ein böser Traum. Doch da! Schon wieder tropft es eiskalt auf seine Stirn.
Was ist das? dachte Fandorin, der von dem Schreck nun endgültig wach war, das Heulen des Windes hörte, das Rauschen des Regens, das Donnergrollen. Was tropfte da? Nichts Weltbewegendes. Regenwasser von der Decke. Beruhige dich, dummes Herz, sei endlich still.
Da aber war das Flüstern wieder! Leise, doch vernehmlich flüsterte es hinter der Tür: »Warum? Wozu?«
Und gleich noch einmal: »Warum? Wozu?«
Es ist das schuldbeladene Gewissen! sagte sich Fandorin. Es verursacht Halluzinationen. Von der widerwärtigen Angst, die an ihm klebte und durch alle Poren in sein Inneres drang, vermochte diese wohlweisliche Erklärung ihn allerdings nicht zu befreien.
Eine Weile schien alles still zu sein. Wetterleuchten flakkerte über die nackten grauen Wände, dann war es wieder dunkel.
Kaum eine Minute später klopfte es leise an das Fenster. Tock-tock. Und noch einmal: Tock-tock-tock.
Ganz ruhig! Das ist der Wind. Der Baum. Äste stoßen gegen die Scheibe. Das gibt es.
Tock-tock. Tock-tock-tock.
Der Baum? Was für ein Baum denn? Mit einem Ruck setzte Fandorin sich auf. Draußen auf dem Hof stand kein Baum, der Hof war kahl. Herrgott, was war das?
Der gelbe Spalt zwischen den Vorhängen wurde fahl und erlosch - wahrscheinlich war der Mond hinter Wolken verschwunden. Gleich darauf sah er ein Wackeln. Etwas Dunkles, Greuliches, Unbegreifliches bewegte sich.
Er mußte etwas tun, egal was. Nur nicht herumliegen und spüren, wie sich die Haarwurzeln sträuben. Nur nicht den Verstand verlieren.
Fandorin erhob sich, ging auf steifen Beinen zum Fenster hinüber, den Blick unverwandt auf jenes dunkle Etwas gerichtet. In dem Moment, da er die Gardinen beiseite schob, wurde der Himmel von einem Blitz erhellt - und Fandorin sah sich einem totenblassen Gesicht mit schwarzen Augenhöhlen gegenüber, das unmittelbar hinter der Scheibe hing. Eine Hand leuchtete auf - in einem Licht, das nicht von dieser Welt war. Mit gespreizten Fingern rutschte sie langsam die Scheibe entlang.
Fandorins Reaktion war dumm, kindisch. Er heulte auf, prallte zurück und stürzte zum Bett, warf sich, den Kopf unter den Händen vergraben, darauf nieder. Aufwachen! Bloß schnell aufwachen! Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme .
Das Klopfen hörte auf. Er riß das Gesicht vom Kissen, schielte ängstlich zum Fenster, wo nichts Furchterregendes mehr zu sehen war - Nacht, Regen, anhaltendes Wetterleuchten. Es waren Sinnestäuschungen gewesen. Ganz bestimmt Sinnestäuschungen.
Glücklicherweise entsann sich Fandorin nun der Regeln aus dem Brevier des indischen Brahmanen Chandra Johnson, die das richtige Atmen und das richtige Leben lehrten. Wie hatte es doch geheißen in dem weisen Buch:
Richtiges Atmen ist die Grundlage richtigen Lebens. Es stützt dich in schweren Minuten des Daseins, es verschafft dir Besinnung, Erleuchtung und Erlösung. Hast du Prana, die Essenz des Lebens, eingeatmet, so laß dir mit dem Ausatmen Zeit, bewahre sie in deinen Lungen. Je tiefer und gemessener dein Atem, um so größer wird deine Lebenskraft sein. Derjenige ist zur Erleuchtung gekommen, der Prana abends eingeatmet und his zum ersten Morgengrauen nicht wieder ausgeatmet hat.
Bis zur Erleuchtung war es für Erast Fandorin gewiß noch ein gutes Stück Weg, doch hatten ihn die allmorgendlichen Übungen immerhin schon so weit gebracht, daß er die Luft bis zu einhundert Sekunden anhalten konnte. Zu diesem zuverlässigen Mittel griff er auch jetzt. Er sog die Lungen voll Luft und verharrte so, »verwandelte sich in einen Baum, einen Stein, einen Halm«. Und es half - das Herz klopfte wieder etwas regelmäßiger, das Entsetzen verflüchtigte sich. Bei hundert atmete Fandorin geräuschvoll aus, befriedigt vom Sieg des Geistes über den Aberglauben.
Und da ertönte ein Laut, dazu angetan, Zähneklappern hervorzurufen. Jemand kratzte an der Tür.
»Laß mich ein!« wisperte eine Stimme. »Sieh mich doch an. Mir ist kalt. Laß mich ein!«
Was zuviel ist, ist zuviel, empörte sich Fandorin, und nahm seinen letzten Stolz zusammen. Ich gehe jetzt hin, öffne die Tür und wache auf. Oder - oder ich sehe, daß ich nicht träume.
In zwei Sätzen war er bei der Tür, schob den Riegel zurück und riß sie auf. Mehr gab sein Anfall von Entschlossenheit nicht her.
Auf der Schwelle stand Amalia. Sie trug noch dasselbe weiße Spitzengewand wie gestern, mit einem verschwommenen Blutfleck auf der Brust. Das Haar war vom Regen naß und zerzaust. Am furchtbarsten aber war ihr Gesicht: Es leuchtete in einem Licht, das nicht von dieser Welt war, die Augen zum Stillstand gekommen, erloschen. Jetzt rückte ihre weiße, funkensprühende Hand auf Fandorins Gesicht zu und berührte seine Wange - ganz wie beim letzten Mal. Doch ging von den Fingern eine solche Eiseskälte aus, daß der arme Fandorin zurückfuhr, dem Wahnsinn nah.
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