Personen in diesen Rang befördert hatte), konnte ernsthaft an eine in kastilischer Manier glühende Leidenschaft glauben! Und hatte auch noch Iwan Brilling den Kopf wirrzureden versucht. Wie peinlich! Hoho! Hübsch hatte Graf Surow salbadert: »Ich fürchte und ich liebe Sie! Ich bring’ die Hexe um, mit eigenen Händen!« Seinen Spaß hatte er an dem dummen Grünschnabel. Und wie ausgefeilt er wieder gearbeitet hatte, nicht weniger präzise als neulich an dem Duell! Die Rechnung war einfach, und sie war aufgegangen: Er durfte in der Nähe des »Winter Queen« Posten beziehen und in aller Ruhe darauf warten, daß die dumme Motte Erasmus angeflattert kam. Das hier war nicht Moskauer Pflaster, da konnten einem weder Detektive noch Gendarmen gefährlich werden, da durfte man einen Erast Fandorin mit nackten Händen greifen. Und fertig war der Braten. Ob Surow nicht auch noch die Rolle jenes Franz spielte, den der Butler erwähnt hatte? Oh, was für ein gemeines Ränkespiel. Wer mochte der Drahtzieher sein: Surow oder die Beshezkaja? Wahrscheinlich doch sie. Fandorin fröstelte, als er an das nächtliche Geschehen zurückdachte, an den klagenden Schrei, mit dem die getroffene Amalia zusammengebrochen war. Vielleicht war sie nicht tot, nur verwundet? Aber die bittere Kälte im Herzen sagte ihm, daß sie tot war, die wunderbare Königin, tot, und Fandorin würde leben müssen mit dieser schweren Bürde bis ans Ende seiner Tage.
Es konnte freilich sein, daß dieses Ende bereits nahte. Su- row wußte, wer den Mord begangen hatte, er hatte es mitangesehen. Wahrscheinlich jagte man ihn schon, in ganz London, ganz England. Aber warum hatte Surow ihn letzte Nacht überhaupt laufen gelassen? Hatte der Revolver in Fan- dorins Hand ihn so sehr erschreckt? Fragen über Fragen.
Noch um einiges rätselhafter war der Inhalt des Portefeuilles. Lange konnte sich Fandorin überhaupt nicht zusammenreimen, was die geheimnisvolle Liste aussagte. Das Nachzählen ergab, daß genauso viele Einträge in den Tabellen wie Briefe vorhanden waren, und alle Angaben stimmten überein. Nur das jeweilige Eingangsdatum war von der Be- shezkaja ergänzt worden.
Es gab insgesamt fünfundvierzig Einträge. Der früheste datierte vom 1. Juni, die letzten drei waren in Fandorins Gegenwart vorgenommen worden. Die in den Briefen angegebenen Registriernummern unterschieden sich deutlich: N° 47F (Königreich Belgien, Ministerialdirektor, eingegangen am 15. Juni) war die niedrigste, N° 2347F (Italien, Dragonerleutnant, eingegangen am 9. Juni) die höchste. Aufgegeben waren die Briefe in neun verschiedenen Ländern. England und Frankreich kamen am häufigsten vor, Rußland tauchte nur ein einziges Mal auf (N° 994F, Wirklicher Staatsrat, eingegangen am 26. Juni, der Stempel auf dem Umschlag gab den 7. Juni an. Doch Vorsicht! Man durfte sich von den verschiedenen Kalendern nicht ins Bockshorn jagen lassen: Der 7. Juni war nach europäischer Rechnung der 19. Also hatte der Brief eine Woche gebraucht.) Die angegebenen Ämter und Ränge waren meist respektabel: Generäle, höhere Offiziere, ein Admiral, ein Senator, sogar ein portugiesischer Minister; doch auch niedrigere Chargen waren darunter, etwa ein Leutnant aus Italien, ein Untersuchungsrichter aus Frankreich und ein Hauptmann der Grenzwache aus Österreich-Ungarn.
Zu vermuten stand, daß die Beshezkaja als Vermittlerin fungierte, Schaltstelle, lebender Briefkasten sozusagen, ihr oblag es, die eingehenden Informationen zu registrieren und weiterzuleiten - offensichtlich an einen Mr. Nickolas Croog in Petersburg. Man durfte ferner annehmen, daß die
Weiterleitung monatlich erfolgte. Fraglos schien auch, daß vor der Beshezkaja eine andere Person die Rolle der Miss Olsen innegehabt hatte, was der Hotelportier nicht wissen konnte.
Damit hatte sich das, was fraglos und offensichtlich war, allerdings schon erschöpft, weshalb es dringend geboten schien, auf die deduktive Methode zurückzugreifen. Ach, wäre der Chef in der Nähe gewesen, er hätte die möglichen Versionen aus dem Hut gezaubert, und alles hätte sich wie von selbst gefügt. Doch der Chef war weit weg, und die Schlußfolgerung, die sich seinem Schüler aufdrängte, hieß: Brilling hatte recht, tausendmal recht. Sie hatten es mit einer verzweigten Geheimorganisation zu tun, deren Glieder in vielen Ländern agierten - Punkt eins. Königin Victoria und ihr Mr. Disraeli waren wohl nicht in die Angelegenheit verstrickt - Punkt zwei. (Wozu wurden die Berichte sonst nach Petersburg geschickt?) Was - Punkt drei - die englischen Spione anging, so saß Fandorin mitten in der Tinte, man konnte die Nihilisten hier geradezu riechen. Und die Fäden führten - Punkt vier - nirgendwo anders hin als nach Rußland, wo bekanntlich die schrecklichsten und gnadenlosesten Nihilisten ihr Unwesen trieben. Darunter ein tückischer Werwolf namens Surow.
So mochte der Chef mit seinen Vermutungen recht haben - dennoch hatte Fandorin seine Spesen nicht ganz umsonst verausgabt. Bestimmt hatte Brilling nicht im bösesten aller Träume vorausgesehen, gegen welch mächtige Hydra er angetreten war. Keine studentischen Hitzköpfe, keine hysterischen Freifräulein mit ihren Bömbchen und Pistölchen, hier operierte ein ganzer Geheimorden, dem Minister, Generäle, Prokuroren und obendrein ein Wirklicher Petersburger Staatsrat angehörten!
In diesem Moment (es war schon weit nach Mittag) wurde Fandorin von einer Erleuchtung heimgesucht. Wirklicher Staatsrat und Nihilist - das wollte einfach nicht zusammenpassen. Was den Chef der Leibwache des brasilianischen Kaisers anging, so ließ sich manches vorstellen, Fandorin war nie in Brasilien gewesen und hatte keine Ahnung von den dortigen Zuständen. Aber einen russischen Staatsdiener im Generalsrang mit einer Bombe in der Tasche - hier weigerte sich Fandorins Einbildungskraft entschieden. Einen Wirklichen Staatsrat kannte er von Angesicht: Fjodor Trifono- witsch Sewrjugin, Direktor des Gymnasiums, das er knappe sieben Jahre besucht hatte. Der und ein Terrorist? Nonsens!
Und plötzlich stockte Erast Fandorin der Atem. Natürlich! Die aufgeführten noblen Herrschaften waren keine Terroristen, sondern Opfer derselben! Nihilisten aller Länder, jeder mit einer Nummer chiffriert, meldeten dem revolutionären Zentralstab die verübten terroristischen Anschläge!
Obwohl . Nein. Im Juni war kein portugiesischer Minister umgebracht worden, das hätten die Zeitungen in jedem Fall gemeldet. Gut, dann ging es eben um potentielle Opfer, so war es! Die »Nummern« (ihre Namen fehlten aus Gründen der Konspiration) holten sich bei der Zentrale die Erlaubnis für den nächsten Terroranschlag ein.
Nun paßte eines zum anderen. Nun kam Licht in die Sache. Hatte Brilling nicht eine Spur erwähnt, die von Achtyr- zew zu einem Landhaus bei Moskau führte? Fandorin, von seinen eigenen Spionagephantasien in Anspruch genommen, hatte damals nicht richtig hingehört.
Stopp. Was hatte ein Dragonerleutnant auf der Liste zu suchen? So ein kleiner Fisch? Ganz einfach! gab sich Fan- dorin sogleich selbst die Antwort. Wahrscheinlich war denen der arme, namenlose Italiener zur Unzeit über den Weg gelaufen. Wie seinerzeit dem weißäugigen Übeltäter ein junger Kollegienregistrator von der Moskauer Kriminalpolizei.
Und was nun? Er saß untätig hier herum, derweil so viele ehrbare Leute in tödlicher Gefahr waren! Am meisten tat ihm der unbekannte Petersburger Generalmajor leid. Bestimmt ein untadeliger Mann, nicht mehr jung an Jahren, mit vielen Verdiensten, die Kinder womöglich noch klein ... Dabei sah es ganz so aus, als schickten diese Carbonari Monat für Monat ihre todbringenden Büttel aus. Kein Tag ohne Blutvergießen in ganz Europa! Und die Fäden liefen in Petersburg zusammen. Die Worte des Chefs fielen ihm ein: »Hier steht Rußlands Schicksal auf dem Spiel.« O weh, Herr Brilling, o weh, lieber Herr Staatsrat, nicht nur Rußlands Schicksal, das Schicksal der gesamten Weltzivilisation.
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